Zur Psychologie des Fleischskandals

„Essen ist pfertig!“ Pferdefleisch in der Tiefkühl-Lasagne und in den Köttbullar bei Ikea - Verbraucher in ganz Europa ekeln sich angesichts des neuesten Fleischskandals. Wieder einmal... Denn der aktuelle Fall steht in einer scheinbar endlosen Reihe von Fleischskandalen wie etwa denen rund um Kadaverfutter/BSE, hormonverseuchtes oder vergammeltes Fleisch. Was aber ist der psychologische Kern der Verbraucherreaktionen auf den jüngsten Pferdefleischskandal?

Von Dirk Ziems

Aus zahlreichen Studien zu Fleischprodukten ist Concept M bekannt, dass Fleischverzehr unbewusst mit sehr spannungsvollen psychologischen Motiven einhergeht. Fleischverzehr ist von einer Annäherung an sehr archaische seelische Seiten bestimmt. Mit dem Fleischverzehr verleibt sich der Konsument symbolisch die Lebenskraft des Tieres ein. Der Werbeclaim: „Fleisch ist ein Stück Lebenskraft“ hat das vor Jahren auf den Punkt gebracht.

Die lustvolle Annäherung an diese archaische Seite wird besonders dann genussreich erlebt, wenn sie an funktionierende Rituale im Alltag geknüpft ist. Die Salami-Stulle zur Stärkung, bei der die Verbraucher eine kräftig rote Salamifärbung bevorzugen, ist ein Beispiel dafür. Ebenso die archaisch geprägten Grillrituale, bei denen die Männer gewissermaßen ihre Fleischbeute auf dem offenen Feuer garen.

Sonntagsbraten als Event, das war einmal

Zugleich geht der Fleischverzehr unbewusst mit latenten Schuldgefühlen einher. Der Mensch versündigt sich gegen seine Mitgeschöpfe, wenn er sie achtlos tötet. In früheren Kulturen war die Schlachtung der Tiere ein Akt, den man bewusst beachtet hat. Das Schlachten wurde mit besonderen Situationen verbunden und mit besonderen Bedeutungen aufgeladen – beispielsweise religiöse Opferrituale – und dadurch kulturell vermittelt. Noch in den 70er Jahren war Fleischverzehr ein eher herausgehobenes Verzehr-Event, etwa, wenn der Sonntagsbraten zelebriert wurde.

Unser moderner westlicher Ernährungsalltag ist dagegen von großer Achtlosigkeit und der weitgehenden Verdrängung möglicher Schuldgefühle geprägt. Currywurst unterwegs und Burger auf der Hand – Fleisch wird kontinuierlich und ubiquitär konsumiert, ohne dass den Konsumenten noch bewusst ist, dass sie gerade Fleisch verzehren.

Entsprechend ist um die „Fleischproduktion“ ein agrarindustrieller Komplex entstanden, der im Dunkeln der Verdrängung agiert. Werden die Verbraucher etwa in kritischen TV-Berichten mit der Existenz der Rinder-, Schweine- oder Hühnerschlachtfabriken konfrontiert, werden massive Schuldgefühle bei ihnen freigesetzt.

Der Verbraucher als Komplize

Insbesondere die Fleischskandale repräsentieren die zyklische Wiederkehr verdrängter Schuld. Vordergründig bestehen die Skandale in betrügerischen Machenschaften einzelner Akteure aus der Agrar- und Nahrungsmittelindustrie. Implizit sind die Skandale jedoch als Schuldphänomene zu verstehen. Dem Verbraucher wird momenthaft bewusst, dass sein Verhalten der eigentliche Skandal ist: Er hat sich zum Komplizen des Systems gemacht, in dem Fleisch achtlos entwertet wird, der Döner 80 Cent kostet, das ganze Brathuhn zwei Euro oder die Tiefkühl-Lasagne 1,79 Euro.

Unsere Tiefeninterviews zeigen, dass die Fleischskandale von den Verbrauchern als eine Art verdiente Strafe verstanden werden: Wer sich so „versündigt“, hat nichts anderes verdient. Mit jedem Fleischskandal wird die Decke der Verdrängung für einen Moment gelupft, und bei den Konsumenten entsteht zumindest für einen Augenblick eine Schulderfahrung oder ein Unbehagen, wie die Fleischernährung in der industriellen Welt tatsächlich organisiert ist. Gesteigert werden diese Empfindungen noch durch Ängste, die gesundheitliche Gefahren (etwa durch Medikamentenrückstände) als Strafe für eigene Konsumsünden werten.

Routinierte Sühnemechanismen

Dass diese Einstellung nicht grundsätzlich wird, sondern im Laufe weniger Wochen wieder die üblichen Verhaltensmuster zum Tragen kommen, liegt an routinierten Exkulpierungsmechanismen, die schnell greifen. Der staatliche Überwachungsapparat kommt auf Touren und verspricht mehr Transparenz, schuld sind in Wahrheit die nicht mehr „natürlich“ arbeitende Landwirtschaft, die gierigen Discounter und die laxe Aufsicht.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Rolle der Verbraucherschützer. Wahrgenommen werden sie als die Wächter, die unbestechlich und unerbittlich Standards einfordern und Qualität verlangen. Doch sobald sie ihr OK gegeben haben und der Fleischverzehr wieder unbedenklich erscheint, haben sie den Verbrauchern die Last der Schuldgefühle genommen – ein fast schon rituell anmutender Akt der Absolution.

Um einem Missverständnis vorzubeugen – der Autor möchte hier nicht eine ethisch-moralische Position vortragen, die den Fleischverzehr grundsätzlich in ein sündiges Licht rückt. Mein Anliegen ist es vielmehr, klarzustellen, dass die Fleischverzehrkultur, die bei uns aktuell vorherrscht, psychologisch sehr störanfällig ist, weil sie auf stark ausgeprägten, aber auch regelmäßig aufgehobenen Verdrängungsmechanismen beruht.

Für Fleischproduzenten ergeben sich aus der Analyse eine Reihe von praktisch relevanten Konsequenzen: Für sehr stark prozessierte Fleischwaren – dazu gehören vor allen Dingen Tiefkühlgerichte, sonstige fleischhaltige Fertiggerichte sowie auch Wurstwaren – droht ein struktureller Vertrauensverlust, der sich auch in den Phasen zwischen den Fleischskandalen immer stärker auswirken kann.

Diesem Vertrauensverlust können Anbieter auf verschiedenen Wegen entgegenwirken und ihre eigenen Produkte und Marken positiv profilieren

  • mit einer bewussten Premium-Preis-Positionierung, die glaubhaft mit besonderen Qualitätsversprechen verbunden sind
  • mit Verpackungsformen, die besonders auf Frische und Transparenz anspielen – wie beispielsweise aktuelle Transparenzverpackungen im Frischebereich
  • mit dem Ausweis von Herkunft aus der näheren Region

Eine weitere Richtung des Fleisch-Marketings verdient hier auch besondere Erwähnung: Gerade im Bereich der hochwertigen Grillwaren (etwa Import-Steaks) werden die Waren immer häufiger in Verpackungen angeboten, die das Fleisch in den Kontext von Ritualen (wie beispielsweise amerikanischen Grilltraditionen) stellen. Über die Verpackung wird dem Konsumenten vermittelt, sich seiner archaischen Seite kontrolliert annähern zu können.

Wie die Beispiele zeigen gibt der jüngste Fleischskandal nicht nur Anlass zur Klage. Es ist auch nicht gesagt, dass die Discount-Dynamik im Fleischmarkt ungebrochen fortgeschrieben wird. Mit psychologisch gut durchdachtem Marketing können aus dem jüngsten Fleischskandal produktive Konsequenzen gezogen werden.

Über den Autor: Dirk Ziems ist Managing Partner beim Marktforschungsinstitut Concept M. Darüber hinaus hält er Lehraufträge unter anderem an der Hochschule für Wirtschaft Berlin, UMC Potsdam, International Film School Cologne und Hochschule für Design in Zürich.

Der Pferdefleischakandal wurde von den Verbrauchern neben aller Aufregung auch unterhaltsam verarbeitet: Die besten Lasagne- und Pferdefleischwitze.