Willkommen in Digitalien

Im Netz hat Südkorea alle überholt.Kein anderes Land ist im Internet schneller unterwegs.Eine perfekte digitale Netzinfrastruktur und die Technikbegeisterung der Koreaner lassen eine digitale Parallelwelt entstehen.Vor allem auf dem Smartphone.

von Anne-Kathrin Keller

Eric Lee sendet 24 Stunden am Tag Daten. Frühmorgens steht er an der Haltestelle im Studentenviertel von Seoul und hält die Kamera seines Samsung Galaxy vor einen QR-Code. Sofort erhält er Informationen, wann der nächste Bus kommt, wie voll dieser ist und wo er am besten umsteigt. Bei jedem Schritt in Eric Lees Alltag begleitet ihn sein Smartphone. Ohne Unterbrechung sendet der Student virtuelle Informationen durch die Luft.

In seinem Global IP Traffic Forecast schätzt das IT-Unternehmens Cisco, dass sich der globale Datenverkehr im Jahr 2015 verglichen mit dem Jahr 2010 vervierfacht haben wird. Die treibenden Kräfte hinter diesem rasanten Anstieg sind die steigende Zahl von Geräten, deutlich mehr Internetnutzer, mehr Videoübertragungen und höhere Brandbreiten. Betrug die Brandbreite 2011 in Deutschland durchschnittlich 12 Megabit pro Sekunde, soll sie laut Global IP Traffic Forecast 2015 bereits 46 Megabit pro Sekunde betragen.

Südkorea hat dieses Stadium längst hinter sich. Die durchschnittliche Breitbandverbindung beträgt bereits über 100 Megabit pro Sekunde. Doch das ist dem ehemaligen asiatischen Tigerstaat längst nicht genug: Bereits Ende 2012 soll in Südkorea eine Bandbreite von einem Gigabit pro Sekunde Standard sein. Während laut OECD in Deutschland rund 25 drahtlose Internetverbindungen pro 100 Einwohner bestehen, gleicht in Südkorea die Einwohnerzahl der Anzahl der Internetanschlüsse.

Experten sehen Korea als Glaskugel für die restliche Welt: Was sich hier bewährt, wird auch den europäischen und amerikanischen Markt erobern. Zentrum der Techniknation ist die Hauptstadt und Megacity Seoul. In der Metropolregion leben 23 Millionen Menschen. In der ganzen Stadt gibt es Wi-Fi-Zugang, egal ob an der Straßenecke oder in der U-Bahn. Eric Lee hat noch ein paar Minuten Zeit, bis sein Bus kommt. In dieser Zeit sichert er sich bereits einen Sitzplatz in der Univorlesung. In Echtzeit zeigt ihm eine App an, wo im Hörsaal noch Plätze frei sind. Über 100 Apps nutzt er regelmäßig.

Die Begeisterung für Digitales kommt in Südkorea nicht von ungefähr: Mit Samsung und LG Electronics stammen zwei der weltweit führenden Handyhersteller aus Südkorea. Was für Deutschland die Automobilindustrie ist, ist in Südkorea die Handyindustrie. Die Folgen sind überall in Seouls Straßenbild zu sehen. Ein Mobiltelefon hat eigentlich jeder Südkoreaner. Junge Menschen holen sich durchschnittlich einmal im Jahr ein neues Smartphone. Das sind mehr als doppelt so viele wie in Deutschland. Laut dem US-Marktforscher Gartner wurden im vergangenen Jahr weltweit 297 Millionen Smartphones verkauft. 2015 sollen es bereits mehr als 1,1 Milliarden verkaufte Geräte sein. In Korea gibt es laut Korea Communications Commission aktuell 26,6 Millionen Smartphone-Nutzer. Das ist jeder zweite Koreaner. In Deutschland geht nur jeder Zehnte auch mit seinem Handy online.

Die Handy-Funktion, die in Korea das größte Wachstum erfährt, befindet sich in Deutschland noch in den Kinderschuhen: Bezahlen mit dem Handy. Während in Deutschland gerade in ersten Modellversuchen das Interesse von Händlern und Kunden geprüft wird, gibt es in Korea längst Läden ohne Produkte und Kunden ohne Geld. Eine Technologie, die sich T-Money nennt, ersetzt bereits seit vier Jahren das Portemonnaie.

Bei T-Money handelt es sich um Guthaben, dass die Handybesitzer auf ihren SIM-Karten oder anderen Handy-Chips speichern können. Will der Nutzer die Bezahlmethode nicht in sein Handy einbauen, kann er alternativ einen T-Money-Schlüsselanhänger erwerben. An diversen Automaten, im öffentlichen Nahverkehr, in Schnellrestaurants, Cafés und in einigen Läden kann die virtuelle Währung in Ware getauscht werden. Dafür wird das Handy oder der Schlüsselanhänger einfach auf ein Sensorfeld gelegt und das Guthaben abgebucht.

Der Alltag wird digitalisiert

Mit der T-Money-Karte können Pendler im ganzen Land einfach und schnell bezahlen. Das System beschränkt sich nicht auf die Hauptstadt, sondern ist nahezu in ganz Korea nutzbar. Am verbreitetsten ist die Technologie im öffentlichen Nahverkehr. Gegen eine Schranke am Eingang einer U-Bahn-Station gehalten, öffnet die Karte sofort das Tor zum Bahnsteig. Pieps und fertig. Der Bezahlvorgang dauert nur eine Sekunde. Ähnliche Projekte gibt es zwar auch im Rest der Welt, wie die Oyster-Karte in London. Doch in Korea akzeptieren weit mehr Händler, Restaurants und Dienstleister die T-Money-Karte als Zahlungsmittel. Papiertickets gibt es für den öffentlichen Nahverkehr in Korea gar nicht mehr.

Zur Beliebtheit von T-Money trägt zudem die Möglichkeit bei, virtuelle Geldgeschenke zu verteilen. Versetzt man eine Freundin bei einem geplanten Treffen, kann man ihr beispielsweise bei Starbucks einen Entschädigungskaffee zukommen lassen. Diese muss nur in die nächste Filiale gehen und dort den virtuellen Gutschein vorzeigen. Bis zu 100.000 solcher Geschenke werden pro Tag in Korea ausgetauscht.

In Deutschland kaum genutzt, ist das Digital Media Broadcasting (DMB), das digitale Handy-Fernsehen, in Korea weit verbreitet. Die Technologie und spezielle Geräte für den heimischen Markt, die das mobile Fernsehen unterstützen, wurde in Korea entwickelt. 2004 wurde ein eigener Satellit nur für das Handy-Fernsehen gestartet. Ende 2007 hatte das mobile TV in Korea bereits 10 Millionen Kunden, inzwischen sind es doppelt so viele. In Seouls U-Bahnen hat jeder sein Smartphone in der Hand. Wer damit gerade nicht chattet oder Zeitung liest, der zieht eine Antenne aus seinem Smartphone und sieht fern.

Der Smartphone-Markt bietet vielen Branchen Potenzial. Der Supermarktbetreiber Tesco hat im vergangenen Jahr einen neuen Schritt gewagt: In der belebten U-Bahn-Station Seolleung hat Tesco mit der Supermarktkette Homeplus ein neues Ladenkonzept eröffnet. An Säulen klebten Großplakate, die die 500 meistverkauften Produkte aus dem Supermarktsortiment zeigten. Unter jedem Produkt befand sich ein quadratischer Barcode. Der Kunde muss nur eine spezielle App starten, den QR-Code einscannen und die Ware wird nach Hause geliefert.

Innerhalb von vier Monaten stieg die Anzahl der registrierten Kunden bei Tesco um 76 Prozent, die Onlineumsätze legten um 130 Prozent zu. Die Innovation hat schnell Nachahmer gefunden. So hat der chinesische Onlinehändler Yihaodian mehrere virtuelle Supermärkte in Metrostationen in und um Schanghai eröffnet. Auch der US-Konsumgüterkonzern Procter & Gamble hat Mitte Oktober virtuelle Shops eingerichtet, und zwar in den vier meistfrequentierten U-Bahn-Drehkreuzen Prags. Auch Eric Lee ist begeistert. Vor allem seit die Plakatwände auch an der Bushaltestelle vor seiner Haustür hängen.

Von Natur aus neugierig auf Technik

Eine Applikation, die zu Südkoreas größten Onlinediensten gehört, ist Kakaotalk. Im Grunde handelt es sich dabei um einen kostenlosen SMS-Dienst ähnlich der in Deutschland und den USA weit verbreiteten Applikation WhatsApp. In knapp zwei Jahren hat das kleine Start-up es auf über 20 Millionen Nutzer gebracht. Koreanische Internetportale wie Naver, die ähnliche Services wie Google anbieten, haben den Dienst bereits in ihr Angebot integriert.

Digitales Fernsehen und Kakaotalk seien nur zwei Beispiele von Phänomenen, die sich fast ausschließlich in Korea durchsetzen. Hier dominieren sie aber den Markt, sagt Philip Kim, Geschäftsführer des koreanischen Dienstleisters für Internetsicherheit Ahnlab.

„Die Koreaner stehen von Natur aus neuen Technologien gegenüber aufgeschlossener als andere Gesellschaften“, sagt der 50-Jährige Kim. Der Grund dafür liege in der Wirtschaftsgeschichte des Landes. Nach der Asienkrise sei den Koreanern klar gewesen, dass das Land neue, innovative Wege gehen müsse. Sicherheitsbedenken und die Angst vor Arbeitsplatzverlusten durch eine starke Technologisierung seien der Sehnsucht nach Wachstum gewichen. Internetbanking sei darum beispielsweise seit 15 Jahren Standard in Südkorea.

Zudem seien Koreaner experimentierfreudig. „Auch wenn wir in manchen Bereichen wenig Erfahrung haben, nehmen wir Geld in die Hand und versuchen neue Wege“, sagt Kim. Ein Beispiel sei die Digitalisierung des Gesundheitssystems. „Meine gesamte Krankengeschichte ist auf meiner Versichertenkarte gespeichert. Egal in welches Krankenhaus ich in Korea gehe, der behandelnde Arzt kann automatisch sehen, welche Operationen ich hatte oder welches Medikament mir zuletzt verschrieben wurde.“ Entscheidend für die Zukunft von Korea sei es jetzt, solche Technologien in andere Länder zu verkaufen.

Die Digitalisierung in Korea macht vor kaum einem Sektor halt. Bis 2015 will die Regierung 154 Millionen Euro investieren, um Schulbücher vollständig durch E-Books zu ersetzen. Jeder Schüler lernt dann über ein Tablet. Erste Pilotprojekte laufen derzeit. In Grundschulen und Kindergärten unterrichtet Engkey, der Sprachroboter, Englisch. Der Roboter wird von einem Muttersprachler von den Philippinen gesteuert. Engkey spricht mit den Kindern und imitiert sogar die Mimik des menschlichen Lehrers.

Eric Lee hat schon lange kein Buch mehr in die Hand genommen. Er liest grundsätzlich nur auf seinem Tablet. In einem halben Jahr will er ein Auslandssemester in Edinburgh machen. Die lange Literaturliste, die er bereits für seine Kurse bekommen hat, irritiert ihn. „Da werde ich wohl seit langer Zeit wieder eine Buchhandlung betreten müssen“, sagt der 24-Jährige. Und nicht nur das. Er wird selber einkaufen gehen, auf den Bus warten und ein Papierticket kaufen müssen. Sein Smartphone wird ihn trotzdem begleiten. Alleine schon, um zu Hause den Anschluss nicht zu verpassen.