Wie wirken sich neue Vertriebsregeln der EU auf den Online-Verkauf aus?

Die im Juni in Kraft getretenen Vertriebsregeln der EU (Vertikal-GVO nebst zugehörigen Leitlinien) gelten für die nächsten zwölf Jahre und betreffen laut Dr. Stefan Meßmer, Rechtsanwalt bei Menold Bezler, vor allem den Online-Vertrieb. Die neuen Leitlinien sollen mehr Rechtssicherheit und Gestaltungsspielräume für Unternehmen schaffen. Für diese sind sie wichtig, weil Kartellbehörden und Gerichte auch danach beurteilen, ob Vereinbarungen zwischen Produzenten und Händlern über den Vertrieb von Waren und Dienstleistungen wirksam und damit im Streitfall durchsetzbar sind.

Herr Meßmer, erklärtes Ziel ist, wiederkehrende Streitfragen zwischen Herstellern und Händlern dauerhaft zu klären. Um welche Streitfragen handelt es sich denn beispielsweise zunehmend?

MEßMER: Der Onlinehandel wächst rasant. Das hat positive Aspekte für Verbraucher, weil die Preise leicht zu vergleichen sind. Markenproduzenten befürchten hingegen, ihre Waren könnten im Netz „verramscht“ werden. Da bislang Unsicherheit herrschte, ob und welche Vorgaben Hersteller machen können, versuchen sie mit nicht immer legalen Methoden den Internetverkauf zu unterbinden: beispielsweise, indem Waren angeblich „derzeit nicht verfügbar“ sind. Die neuen Leitlinien stellen jetzt klar, dass ein Lieferant Qualitätsstandards für Onlineshops festlegen kann. Dies gilt insbesondere, wenn er einen selektiven Vertrieb eingeführt hat. Das ist der Fall, wenn er Händler generell nach objektiven qualitativen und quantitativen Kriterien auswählt.
Leichter zu beantworten ist nun auch die Frage, wann Onlinewerbung unzulässig in eine exklusive Gebietszuweisung zugunsten eines Händlers eingreift. Nicht zu verhindern sind in der Regel sogenannte „passive“ Internet-Verkäufe, bei denen ein Kunde unaufgefordert im Netz bestellt. Der Onlinehändler darf in diesem Fall beispielsweise nicht gezwungen werden, den Kunden direkt von seiner Website auf die des Herstellers oder anderer Händler weiterzuleiten. Entscheidet der Kunde dabei, dass er automatisch über neueste Angebote des Händlers informiert werden möchte, gilt jeder Verkauf im Anschluss als passiv. Grundsätzlich dürfen sich Hersteller auch nicht in den Newsletter-Versand der Internethändler einmischen, wenn dieser vom Kunden angefordert wurde.

Warum gelingt es der EU-Kommission nur teilweise, diese Streitigkeiten zu unterbinden?

MEßMER: Die technischen Möglichkeiten des Online-Vertriebs sind enorm vielfältig und ändern sich rasend schnell. Das macht es immens schwer, rechtliche Regelungen zu finden, die über mehr als ein Jahrzehnt alle Unklarheiten beseitigen. Immer neue Online-Formate und Werbestrategien werden immer neue Fragen aufwerfen, über die sich Hersteller und Händler streiten.

Nun dürfen Markenhersteller Fachgeschäfte grundsätzlich nicht gegenüber Onlinehändlern bevorzugen. Was ist in diesem Zusammenhang jetzt verboten und was noch erlaubt?

MEßMER: Verboten ist beispielsweise, einen Internethändler zu verpflichten, höhere Preise für Produkte zu bezahlen, weil er sie online weiterverkauft. Sofern dem Hersteller durch den Verkauf der Waren im Netz aber höhere Kosten etwa durch vermehrte Reklamationen entstehen, kann er für Verkäufe im Netz ausnahmsweise höhere Preise verlangen. Für eine solche Einzelfreistellung muss er aber dem Bundeskartellamt die ihm entstehenden Mehrkosten plausibel machen.
Nicht erlaubt ist die bisher weit verbreitete Praxis von Markenproduzenten, dem Internetshop vorzuschreiben, wie viel Prozent seines Umsatzes er offline verkaufen muss. Aber ein Markenhersteller kann dem Händler einen absoluten Wert vorgeben. So darf er fordern, dass ein bestimmter Mindestumsatz mit den Vertragsprodukten im Ladengeschäft erzielt wird. Wer ein selektives Vertriebssystem eingeführt hat, darf auch weiterhin ein stationäres Ladenlokal vom Händler fordern. Reine Internethändler lassen sich so vom Vertrieb ausschließen. Das Ausschlussrecht besitzen nicht nur Hersteller von Luxusgütern, sondern alle, die ihre selektive Händlerauswahl beispielsweise mit der besonderen Markenpflege begründen.

Wie stark hat die EU-Kommission Bedingungen für ein kategorisches Onlineverkaufsverbot eingegrenzt?

MEßMER: Prinzipiell verlangt die EU, dass jeder Händler das Internet nutzen darf. Ein kategorisches Onlineverkaufsverbot scheidet somit ganz aus. Es ist auch nicht für einzelne Produkte möglich. Zulässig ist aber sehr wohl, im Rahmen eines selektiven Vertriebs qualitative Vorgaben zu machen, um das Markenimage zu gewährleisten, die eine Internet-Auktionsplattform wie Ebay nur schwer erfüllen kann. Beispielsweise, indem Hersteller festlegen, dass den Kunden im Netz zu den üblichen Geschäftszeiten eine Hotline mit fachkundigem Personal bereitzustellen ist. Oder dass der Händler die Vertragsware jeweils aktuell und in der im Ladengeschäft angebotenen Sortimentsbreite ansprechend präsentieren muss.

Was hat sich bei der Preisbindung für die Hersteller zum Positiven gewendet?

MEßMER: Die EU-Kommission hat auf die Entwicklungen in den USA reagiert. Dort hat der U.S. Supreme Court seine bisherige Rechtsprechung aufgegeben und verlangt jetzt, im Einzelfall zu prüfen, ob eine Preisbindung ausnahmsweise zulässig ist. So soll es nach neuem Recht beispielsweise möglich sein, dem sogenannten „Trittbrettfahrerproblem“ vorzubeugen: Fachhändler wollen oft verhindern, dass sich Käufer im Geschäft aufwendig beraten lassen, um das Produkt anschließend im Internet bei einem anderen Anbieter billiger einzukaufen. Allerdings ist davon auszugehen, dass die Kartellämter Preisbindungen nur in wenigen Ausnahmefällen bei technisch komplexen und damit beratungsintensiven Produkten akzeptieren werden. Auch hohe Kosten für die Markteinführung eines Produkts können unter Umständen eine Preisbindung rechtfertigen. Gleiches gilt für befristete Niedrigpreiskampagnen innerhalb eines Franchisesystems, um einen größtmöglichen Werbeeffekt und Vorteile für die Verbraucher zu erzielen.

Worauf sollten Markenhersteller in der Vertriebspraxis aufgrund des neuen Wettbewerbs- und Kartellrechts verschärft achten?

MEßMER: Sie sollten die neuen Vorgaben auf oberster Führungsebene zum Anlass nehmen, sich Gedanken über die Struktur ihres Vertriebs zu machen. Vertrieb ist immer weniger nur Mittel zum Zweck. Ihm kommt zunehmend auch strategische Bedeutung zu. Denn die Entscheidung über das Vertriebssystems ist ausschlaggebend dafür, inwieweit ein Hersteller den Vertriebspartnern Vorgaben machen darf. In vielen Fällen lohnt es sich, über einen selektiven Vertrieb nachzudenken. Dieser hat den Vorteil, dass ein Hersteller klar definiert, welches Verhalten der Vertriebspartner er will oder nicht und welche Spielräume beide Seiten haben sollen.
Die neuen Regeln der EU liefern hierfür eine wertvolle Orientierungshilfe. Und sie erleichtern es, zu prüfen, ob bestehende Vertriebsvereinbarungen gegen Kartell- und Wettbewerbsrecht verstoßen. Der Aufwand lohnt sich schon allein deshalb, weil kartellrechtswidrige Verträge im Streitfall nicht gerichtlich durchsetzbar sind. Zudem drohen empfindliche Bußgelder durch die Kartellbehörden, wenn Unternehmen unzulässige Beschränkungen vereinbaren. Da viele Fragen auch weiterhin ungeklärt sind, bleiben zwar Risiken für die Unternehmen bestehen. Zugleich eröffnen sich aber neue Gestaltungsspielräume.

Dr. Stefan Meßmer ist Rechtsanwalt bei der Menold Bezler Rechtsanwälte-Partnerschaft in Stuttgart.

Die Fragen stellte Martina Monsees.