„Wie wir Deutschen ticken“: Verschmust und kreativ statt langweilig und diszipliniert

Pflichtbewusst, diszipliniert, pünktlich und langweilig, dies sind die Eigenschaften, die den Deutschen gerne zugesprochen werden. Aktuelle Umfrageergebnissen des Marktforschungs- und Beratungsinstituts YouGov aber räumen damit auf. 
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Mit einem liebevollen Blick auf das Volk der Dichter und Denker haben Autor Christoph Drösser und Herausgeber Holger Geißler Ergebnisse von mehr als 80.000 repräsentativen Interviews, die YouGov zwischen September 2014 und April 2015 mit der Mehrthemenumfrage OmnibusDaily durchführte, zusammengestellt.

Die Ergebnisse wurden von Studenten des EMBA Media Labs der Europäischen Medien- und Business-Akademie in Hamburg in bunte Infografiken übersetzt, die Ergebnisse nun in einem Buch zusammengefasst: „Wie wir Deutschen ticken“ ist in dieser Woche im Verlag Edel Books erschienen. Die Autoren nehmen sich darin den Klischees der deutschen Mentalität zur Brust und räumen dabei mit dem ein oder anderen auf – wenn auch nicht mit allen.

Wie bin ich nach Hause gekommen?

Wenn es der Verkehr zulässt, überqueren 71 Prozent als Fußgänger eine rote Ampel, auch wenn immerhin 14 Prozent der Autofahrer lieber umkehren würden, als über eine dauerhaft rote Ampel zu fahren. 65 Prozent der Deutschen sagen von sich, sie seien kreativ, 61 Prozent sind der Ansicht, dass es zu viele Gesetze und Verordnungen gibt, 39 Prozent sind schon einmal schwarzgefahren. Bei 23 Prozent ist es bereits vorgekommen, dass sie sich nicht daran erinnert haben, wie sie nach einer durchzechten Partynacht nach Hause gekommen sind.

Wein statt Bier, experimentierfreudig im Bett

Deutschland ist ein Volk der Biertrinker? Falsch, denn haben die Deutschen die Qual der Wahl und müssen zwischen Bier und Wein wählen, würden sich 57 Prozent für Wein entscheiden, bei 43 Prozent gewinnt das Bier. Deutschland ist also vielmehr ein Volk der Wein- statt Bierfreunde.

Und auch in deutschen Betten ist Langeweile längst passé. Beim Thema Sex scheinen sie experimentierfreudig zu sein. Fast jeder Dritte (29 Prozent) hat schon einmal Sexspielzeug genutzt. Fast genauso viele hatten Sex an einem öffentlichen Ort und jeder Neunte hat sich selbst beim Sex mit anderen gefilmt oder fotografiert.

Neugierig aber mit deutschem Gaumen

Ein ebenfalls häufig diskutiertes Vorurteil: Deutsche sind verschlossen. Ganz im Gegenteil: Dass es sich bei den Deutschen um ein grundlegend offenes Volk handelt, zeigt beispielsweise das Interesse an fremden Ländern und Menschen. 62 Prozent geben an, sich hierfür zu interessieren und über die Hälfte (58 Prozent) war schon einmal außerhalb der Grenzen Europas im Urlaub. Nicht ganz so interessiert sind die Deutschen allerdings an den Geschmäckern fremder Küchen. Das Vorurteil, Deutsche essen nur Wurst und Sauerkraut, ist zumindest teilweise bestätigt, denn eine große Mehrheit (70 Prozent) präferiert die deutsche Küche. Immerhin fast zwei Drittel (65 Prozent) können italienischen Gerichten etwas abgewinnen, die drittbeliebteste Küche ist die Chinesische (47 Prozent).

Leseratten, Poeten, Eigenbrödler

Dass die Deutschen gerne lesen, ist ebenfalls nicht nur ein Klischee: 58 Prozent haben mehr als 50 Bücher im Regal. Besonders viel gelesen wird im Norden und im Südwesten, die Büchermuffel leben in der Mitte des Landes. Und zumindest jeder fünfte Bundesbürger zählt zu den Dichtern im Land, denn er greift manchmal selbst zur Feder und schreibt ein Gedicht.

Ein weiteres Vorurteil: die Deutschen und ihre Vereinsmentalität. So sind tatsächlich zwei Fünftel der Deutschen Mitglied in einem oder mehreren Vereinen. Sportklubs haben besonders großen Zulauf; Kegel-, Kleingarten- und Schützenvereine dagegen weniger. Die Mehrheit sieht das Vereinswesen dennoch kritisch und unterschreibt ungern Beitrittserklärungen: 53 Prozent möchten sich nicht dauerhaft an eine Gruppe binden, sondern spontan entscheiden, wo sie mitmachen.

Verschmuste Autoliebhaber

Darüber hinaus sind die Deutschen ein verschmustes Volk. Alle Spielarten der körperlichen Nähe haben eine große Anhängerschaft. Der körperlich auf Distanz bedachte Deutsche ist also Geschichte. Besonders spannend sind die Daten zum formvollendeten Umgang befreundeter Paare miteinander: Das Umarmen und „Küsschen rechts, Küsschen links“ hat sich allgemein eingebürgert – außer zwischen Mann und Mann.

Schlussendlich eignet sich kaum etwas so gut, die inneren Widersprüche der Deutschen aufzuzeigen, wie das Verhältnis zu ihrem liebsten Kind: dem Auto. 69 Prozent lieben ihr Auto (bei den Frauen sind es sogar 74 Prozent), aber gleichzeitig sagen 71 Prozent: Es ist nur ein Gebrauchsgegenstand. 89 Prozent halten sich für gute Autofahrer, bei den jungen Männern sind es sogar 93 Prozent.

„Das Buch zeigt eindrucksvoll, dass viele Klischees und Vorurteile über uns Deutsche heutzutage kaum mehr haltbar sind. Allerdings haben Vorurteile ja auch die Eigenschaft hartnäckig zu sein. Es wäre schön, wenn unser Buch dazu beitragen würde, unser Selbstbild an einigen Stellen zu erweitern und zu revidieren“, sagt Herausgeber Holger Geißler, Vorstand von YouGov.