Wer Teil der Lösung ist, hat vielleicht ein Problem (Teil 1): Mut zur Herausforderung.

Wer nach einer Lösung sucht, findet meist prompt einen vielversprechenden Ansatz. Denn gefühlt gibt es für alles eine Lösung. Doch haben Sie den Spieß schon einmal umgedreht und sich auf die Suche nach einem richtig guten Problem begeben? Warum sich das lohnt, wissen unsere Gastautoren Gordon Euchler (BBDO), Nils Liedtke (McKinsey) und Nils Haseborg (Bridgehouse).

Ein Gastbeitrag von Gordon Euchler/BBDO, Nils Liedtke/McKinsey & Company und Nils Haseborg/Bridgehouse

Der Kult der Lösung

Probleme wollen gelöst werden. Beratungen, Medienunternehmen, digitale Dienstleister, datenberauschte Start-ups – in Marketing und Vertrieb erheben alle den Anspruch, Teil der Lösung sein. Mit immer neuen Tools und Konzepten wie beispielsweise Design Thinking, Purpose und Customer Journey werden Lösungen wie am Fließband produziert – gerne auch mit Hilfe künstlicher Intelligenz. Welche Lösung am besten funktioniert, finden wir dann mit A/B-Tests und programmatischer Ausspielung heraus.

Lösungen gibt es mehr als genug. Aber wann haben Sie zuletzt ein wirklich spannendes Problem gesehen? Vor der Problemfindung drücken wir uns. Schon das Wort Problem will keiner hören: „Wir können doch nicht Problem schreiben, dann denkt der Kunde, er hat tatsächlich ein Problem. Lass uns doch lieber Challenge schreiben.“

Die Kraft des Problems

Dabei gilt: Wer Probleme richtig identifiziert, gibt den Kurs für die Lösungsversuche vor. Oft führt erst ein klar benanntes, so bisher noch nicht gefasstes Problem zu wirklich neuen Lösungen. Und ein größeres Problem zu einer größeren Lösung. Und wenn ein CMO dringende Probleme seines oder ihres Unternehmens angeht, ist ihm oder ihr die Aufmerksamkeit des CEOs gewiss. [1] So steigt die Chance, dass Strategien und Ideen nicht einfach nur Powerpoint-Präsentation bleiben, sondern tatsächlich umgesetzt werden. [2]

Probleme sind also Wachstumschance und strategischer Wettbewerbsvorteil zugleich. Während es nicht an Literatur darüber mangelt, wie wichtig das richtige Problem ist, [3] so gibt es doch kaum Vorschläge und Strategien zum Entdecken von neuen Problemen. [4] Aber solche Strategien werden gebraucht. Denn gute Probleme liegen nicht einfach rum. Schon gar nicht werden sie mit dem Briefing frei Haus geliefert. Man muss sie sich erarbeiten. [5]

Das vielleicht beste Beispiel für die Wirkmacht großer Probleme ist das Mandat, das Kennedy 1961 der NASA erteilte: Bringt binnen zehn Jahren einen Menschen auf den Mond und heil zurück zur Erde. Dieses gigantische Problem inspirierte nicht nur Millionen Menschen in aller Welt. Es löste auch einen wahren Innovationstaumel aus, von Mathematik und Informationsverarbeitung bis Logistik und Prozessmanagement. Der Legende nach ist dabei sogar die Teflon-Pfanne abgefallen. [6]

Gute Probleme entdecken

Was die besten Player im Marketing seit jeher auszeichnet, ist ihr Antrieb, immer wieder neue und ungesehene Wege zu gehen. Zurzeit nutzen wir diese geballte Kreativität, um die spannendsten Lösungen zu entwickeln. Was würde passieren, wenn wir dieselbe Kreativität einsetzten, um die spannendsten Probleme zu entdecken? Im Folgenden zeigen wir Ideen auf, wie man kreative und strategische Tools nicht mehr (nur) anwendet, um eine Lösung zu entwickeln. Sondern um das beste Problem zu erarbeiten.

1. Von „Trendwatching“ zu „Problemwatching“

Fast alle Unternehmen beobachten die Trends in ihrem Markt und in ihren Zielgruppen, um herauszufinden, wie man diese Trends für zukünftiges Wachstum nutzen kann. Wir schlagen vor, dieselbe Regelmäßigkeit und Tiefe auf die Beobachtung aufkommender Probleme anzuwenden. Also nicht mehr nur zu versuchen, als erster einem Trend hinterherzulaufen. Sondern um die spannendsten, frischesten und aufregendsten Probleme aufzuspüren, bevor aus deren Lösung ein Trend entstehen kann.

Als der Frühstücksabsatz bei McDonald’s stagnierte, erschloss nicht ein Trend, sondern ein Problem den Weg zurück zum Wachstum. Das Problem, dass Menschen selbst das beste Frühstück bei McDonald’s nur kaufen, wenn sie dazu einen zumindest akzeptablen Kaffee erwarten könnten. Dieses Problem war die Wurzel des 4-Milliarden-Dollar-Geschäfts McCafé – und brachte auch das Frühstücksgeschäft wieder auf die Wachstumsspur. [7]

Gatorade entdeckte das Problem, dass Menschen zwar an der Uni Sport treiben – ihnen danach aber das Leben in den Weg kommt und sie dann keinen Grund mehr haben, Gatorade zu trinken. Daraufhin entwickelte Gatorade mit ‚Replay’ eine Reihe von Events, bei denen ehemalige Uni-Sportler das große Spiel ihrer Jugend noch einmal austragen konnten. Gegen dieselben Gegner. Im selben Stadion. Mit denselben Cheerleadern. Und sich dafür fit machen mussten. In den Regionen, in denen die Gatorade-Replay-Kampagne ausgespielt wurde, stieg der Absatz um 63 Prozent.

2. Von „Design Thinking“ zu „Designing problems

Design Thinking ist „a method of meeting people’s needs and desires in a technologically feasible and strategically viable way” [8]. Bei Design Thinking geht es darum, für den ‚Need‘ der Nutzer iterativ immer bessere Lösungen zu entwickeln. Und zu oft wird vergessen, dass es gleichzeitig darum geht, mit jeder neuen Lösungshypothese auch das Problem noch einmal auf den Prüfstand zu stellen. Und zu verbessern. Ein scheinbar allgemeines Problem kann nämlich Runde für Runde immer weiter angereichert und verbessert werden.

Ein sehr gutes Beispiel für iterative Verfeinerung eines Problems ist der Kampf der Regierung Singapurs gegen das Rauchen. Wie fast allen Rauchern fiel es auch den Bürgern des Stadtstaats sichtlich schwer, mit dem Rauchen aufzuhören. So weit, so ungreifbar. Aber unterhalb dieses Problems versteckte sich ein ganzer Baum untergeordneter Probleme.[9] Das erste Problem: Rauchen war zu einfach. Also erlies die Regierung Verbote. Zusätzlich war Rauchen attraktiv. Also führte man zusätzlich abschreckende Kampagnen ein. Und dann merkte man, dass zwar sehr viele Raucher versuchen aufzuhören, aber dass sie es nicht lange genug durchhalten. Das Ergebnis war eine Kampagne, die das Rauchen nicht etwa verteufelte. Sondern Menschen, die gerade versuchten aufzuhören, motivierte. Anfeuerte. Zu Helden erklärte. Jeden Tag und öffentlich. Diese Anreicherung des Problems verdreifachte die Zahl der erfolgreichen neuen Nicht-Raucher.

Weitere Strategien, Probleme zu entdecken, finden Sie im zweiten Teil des Artikels. Erscheinungsdatum ist Donnerstag, der 01. November um 08 Uhr. 

Über die Autoren

Gordon Euchler machte seinen Doktor an der University of Cambridge. Danach tat er das einzig logische und startete als Planner in der Werbung und entwickelt Strategien für Marken wie die Deutsche Telekom, Allianz, Electrolux, Aspirin oder Postbank. Er ist seit 2017 Head of Planning bei BBDO in Düsseldorf.

Nils Haseborg ist bei Bridgehouse Trainer für Kreativität, Innovation und kreative Führungskräfte. Er arbeitete bis vor Kurzem als Executive Creative Director für eine der besten Agenturmarken Deutschlands. Davor arbeite er über zehn Jahre als Creative Director für verschiedene führende Agenturen in Hamburg und Berlin.

Nils Liedtke ist Senior Expert im Brüsseler Büro von McKinsey & Company und berät insbesondere Konsum- und Automobilklienten zu strategischen Marketing- und Wachstumsfragen.

 

 

Ein kleines PS von den Autoren: Wir bedanken uns bei Cornelius Grupen, ohne dessen eleganten Schreibstil Sie wahrscheinlich schon nach dem ersten Absatz ausgestiegen wären.


[1] 80% of CEO’s do not trust marketers, The Fournaisegroup
[2] Für Zahlen zu diesem Thema: „Changing Change Management“ Ewenstein, Smith and Sologar, McKinsey Quarterly July 2015
[3]Einstein braucht man hier nicht zu zitieren; es reicht die Harvard Business Review: ‘How you define the problem determines whether you solve it’
[4] Selbst das fast allumfassende Strategie-Papier ‚The McKinsey Approach to Problem Solving‘ (Davis et. Al.) widmet bei über 40 Seiten Umfang dem Problem nur einen kurzen Absatz.
[5] Einer der Autoren hat 2,5 Jahre seines PhDs damit verbracht, das richtige Problem zu finden.
[6] Bei näherer Betrachtung hat die Menschheit der NASA lediglich die Popularisierung eines Materials zu verdanken, das bereits 1938 patentiert worden war.
[7] Harvard Business Review, The McCafe Inititiativ
[8] Harvard Business Review, ‘Design Thinking’ Tim Brown
[9] The McKinsey Approach to Problem Solving, Davis et al.