Vertikalisierung auf dem Vormarsch

Ein Trend greift um sich, dem sich namhafte Markenartikler anscheinend nur schwer entziehen können: Flagships werden in den Metropolen der Welt eröffnet. Das vielleicht neueste Beispiel ist der Brandstore der deutschen Porsche Design Group; eine spannende Location in New York am West Broadway in einem sogenannten Cast-Iron-Gebäude in typischer Gusseisen-Architektur. Präsentiert wird dort in Soho auf 250m² die gesamte Produktpalette von Büro-/Schreibgeräten, Mobiltelefonen, die Sport- und Modekollektion inklusive Gepäck bis hin zu Brillen, Uhren, Schmuck sowie Smoking Accessoires. Diese Leistungsschau von Porsche Design, nicht anders bei zum Beispiel Apple, BMW, Boss, Grohe, Miele oder Montblanc – you name it – ist beeindruckend. Hersteller macht Handel, aber warum nur?

Die Industrie vermisst Marketing-Kompetenz beim Handel. Ganz offensichtlich fühlt sich die Markenartikelindustrie im Handel nicht (mehr) richtig aufgehoben. Sie setzt sich selbst, ihre Marken und Produkte in Szene und demonstriert Stärke. Ihre Warenpräsentation, Serviceangebote, Gestaltungen von Ambiente und Atmosphäre folgen neuen Regeln. Individualisierung steht im Fokus, und da vertraut die Industrie nur sich selbst. Woher kommt aber das Misstrauen der Industrie?

Eine Kompetenz des Handels ist die Diagnose und Auswertung von Shopper Insights. Das heißt, wann wird wie, wo, was alleine oder zusammengekauft, die Laufwegegestaltung, Category Management, Preisgestaltung – mit diesem Wissen hat der Handel reüssiert. Das steht aber nicht im Vordergrund der Gestaltung der einzelnen Marken-Stores. Das Wissen des Handels um Käuferverhalten reicht nicht mehr aus, um zu begeistern. Der Handel hat falsch priorisiert, die Hersteller legen auf etwas Anderes wert, die originäre Retail-Erfahrung wird gerade nicht nachgefragt.

Die Markenartikler besinnen sich auf ihre Kernkompetenz – Produkte entwickeln und vermarkten – und greifen auf originäre Consumer Insights zurück. Die Marktforscher der Industrie haben tiefergehend analysiert: Verwenderansprüche, das Nutzerverhalten, Gebrauchsmotive und -situationen der Konsumenten, Symbolwirkung von Besitz, die Markenwirkung im Beruf und Privat, zu Hause und auf der Straße. Ihre Handlungsempfehlung geht nicht mehr nur in die Produktentwicklung, wesentliche Erkenntnisse speisen den Vertrieb. Die da sind: Marke muss ihren originären Nutzen entfalten, heute durch Inszenierung. Egal, ob Funktion, Image, Ästhetik oder Fun das Leistungsversprechen ist, das einzelne Element wird ausgelobt und nach neuesten Erkenntnissen in Szene gesetzt.

Der Handel wird auf seine Distributionsfunktion reduziert. Die originäre Überbrückung räumlicher, zeitlicher, mengenmäßiger und qualitativer Spannungen zwischen Produktion und Konsum wird eingefordert, nicht mehr. Die Funktionserweiterung der Vergangenheit in zum Beispiel Merchandising von B- und C-Marken oder Eigeninitiativen wie Private Labeling wird heute guillotiniert. Die Flagship-Engagements der Markenartikler zeigen, dass das absatzpolitische Instrumentarium neu adjustiert wird; die Industrie holt sich Gestaltungshoheit zurück, Distributionspolitik – originär das p wie Place – wird sehr ernst genommen.

Erlebniskauf schlägt Einkauf. Die Einkaufsstätte wird heute gemessen am Erlebnisfaktor, es kommt darauf an, etwas Einzigartiges zu machen, etwas Einmaliges erleben zu dürfen. Es wird das kostbare Gut „Zeit“ investiert, dafür gibt es die Gegenleistung Atmosphäre, Action, Fun, persönliche/distinguierte Ansprache, Ausprobieren etc. Alle Sinne werden angesprochen, es wird berührt, geschmeckt, man wird gesehen, erfährt die Wirkung auf andere beim Gebrauch, sieht sich selber im Konsum befriedigt.

– Bei dem einen wird Zeit investiert, es wird verweilt und danach davon berichtet – man war schoppen. Schlange stehen ist Status. Wenn Regale leer sind, ist dieser Artikel anscheinend der „Renner“ und nochmal so begehrt. Die Kundenbewertung findet offline vor Ort statt. Der User berichtet live und in Farbe und ist authentisch. Danach kann man in Facebook alles nachlesen.

– Bei dem anderen wird Zeit „rausgeholt“, man muss noch etwas besorgen, das ist Pflicht und nicht freiwillig. Was schnell geht, ist gut – man reduziert Stress. Kein Konsument berichtet von seinen Erlebnissen im klassischen Handel. Was lange dauert, ist schlecht, was erzählt wird, sind Negativerfahrungen, zum Beispiel wie Wühltische aussehen, wie unfreundliche Bedienung wirkt, was fehlende Beratung bewirkt, wo Kassen Warteschlangen provozieren. Was man hierzu in Facebook nachlesen kann, will man nicht wirklich wissen.

Der Online-Boom steht hierzu nicht im Widerspruch. Online wird rational eingekauft – nicht geschoppt. Effizienz und Effektivität stehen im Vordergrund. Man könnte sagen: Jagen statt Sammeln. Dabei werden zeitintensiv Informationen gesucht, gesichtet, ausgewertet, angewendet, aber keine Konsumerlebnisse generiert. Abgesichert durch Analyse der Vergleichsportale, bestätigt durch Kundenbewertungen online, findet sicherer Einkauf statt. Da die Kleinteilelogistik funktioniert, Rechtssicherheit grenzüberschreitend gewährleistet ist, bleiben Negativberichte aus. Die Konsumerfahrungsberichte reflektieren Schnelligkeit, Sicherheit, Schnäppchengewinne.

Marken werden so allerdings nicht erlebt, sondern erlegt. Online ist Distribution pur. Ein schönes Beispiel ist Amazon. Das ist ein Logistiker, und zwar ein sehr guter. Und er bietet die Plattform zu illustriertem, informativem Einkauf. Amazon ist aber kein Konsumtempel, keine Inszenierungsbühne, damit kein Vehikel für Marken, wie es sich die Markenartikler wünschen, damit keine Konkurrenz zu (eigenen) Stores.

Haben Unternehmen, Produkte, Marken Identifikationspotential, dann haben sie Potenzial das Geltungsbedürfnis der Konsumenten zu befriedigen, die Zugehörigkeit zu seiner Peer Group zu attestieren; dann ist es wert, Aufwand zu betreiben, um die Marke zu erstehen, ein Preispremium zu akzeptieren etc., dann gilt heute für die Markenhersteller: Ab in die Vertikalisierung.

Aber Achtung: Ist jetzt alles anders? Wer betreibt eigentlich die Flagshipstores oder den Onlineshop? Ist die Industrie der bessere Händler? Da muss man genau hinschauen. Wird in den Flagships tatsächlich verkauft oder „nur“ informiert, gezeigt, vorgeführt? Ist es ein Showroom oder ist es ein Store? Kann ich Ware mitnehmen oder nur angucken, vielleicht auch bestellen? Wer liefert dann, und wohin? Retail bleibt Detail! Und so kann es gut sein, dass wir Konsumenten zwar vor Bewunderung verweilen und nutzen und auch kaufen. Aber der Store könnte von einem klassischen Händler unter Herstellernamen betrieben werden. Online könnte vom Hersteller direkt in Eigenregie…, könnte aber auch durch Dritte (Händler, Logistiker, Professionelle Verwender zum Beispiel Handwerker etc.) in einem schönen „Markenmantel“ betrieben werden. Die Handelsfunktionen wären dann par excellence erfüllt, die Symbiose perfekt und die Arbeit hinter der Arbeitsteilung erfolgsträchtig verteilt. Und alles bleibt beim Alten.

Über den Autor: Dr. Andreas Kricsfalussy ist Geschäftsführender Partner der Horn & Company in Düsseldorf und Dozent für Marketing an der ISM in Dortmund.