„Unsere Kirche kann nicht everybody’s darling sein“

Sein Strategie- und Reformpapier „Kirche der Freiheit“ sorgte für Aufsehen, denn es prognostiziert der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) einen Verlust der Finanzkraft um die Hälfte und einen Rückgang der Mitglieder um ein Drittel bis zum Jahr 2030. Der Vergleich der katholischen Kirche mit einem „angeschlagenen Boxer“, der eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war, brachte dem Chefstrategen zudem Kritik ein. Dr. Thies Gundlach, Vizepräsident im obersten Kirchenamt der EKD, zeichnet aber vor allem für künftige „kirchliche Handlungsfelder“ verantwortlich und regt damit die inhaltliche Diskussion über Gegenwart und Zukunft für mehr als 24 Millionen Protestanten an. Seinen Thesen stellt sich der führende Theologe im Interview.
Der Theologe Thies Gundlach wird am 1.12.2010 einer von drei Vizepräsidenten im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Foto vom 02.09.2010 im Kirchenamt in Hannover.

In einem Vortrag vor evangelischen Entscheidern drohten Sie: „Unsere Kirche wird vieles loslassen müssen – Kirchen, Gemeindezentren, Pfarrhäuser, Mitarbeiter und Aufgaben.“ Steht bei einem solchen Schrumpfkurs nicht zu befürchten, dass dies den Abstieg noch beschleunigt?

THIES GUNDLACH: Die Gefahr besteht. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Wir werden weniger Christen und können nicht alles aufrecht erhalten, aber gerade dadurch verlieren wir weitere Kontakte. Das ist das echtes Dilemma, aus dem es keine schnellen Wege raus gibt.

Muss Ihre Kirche sich neue Vertriebswege eröffnen, zum Beispiel übers Internet?

GUNDLACH: Das Evangelium lebt von der konkreten Begegnung, der Grundvollzug dafür ist die gemeinsame Feier des Gottesdienstes und des Abendmahls. Wir sind aber im Internet ebenfalls sehr präsent, zum Beispiel mit Formaten wie geistreich.de, das sich an Mitarbeitende wendet, oder evangelisch.de, das die Öffentlichkeit im Blick hat. Sogar die Seelsorge per Internet wird erstaunlich stark nachgefragt. Aber auch die Facebook-Generation will sich persönlich begegnen und konkrete Menschen erfahren! Diesen Trend stellen wir jedenfalls bei unseren Konfirmanden fest.

Apropos Seelsorge: Ist sie mit weniger Personal eigentlich noch zu leisten?

GUNDLACH: Seelsorge ist eine hoch professionelle Aufgabe, die zwar auch von entsprechend geschulten Ehrenamtlichen übernommen werden kann, die aber eine Kernaufgabe jedes Pfarrers und jeder Pfarrerin ist. Wir müssen sie darum von anderem entlasten: weniger Sitzungen, weniger Gremienarbeit, weniger Administration. Zurück zur Kernaufgabe, weg von der Selbstverwaltung, das ist die allseits akzeptierte Devise.

Frömmigkeit und Spiritualität werden eine „radikalere Individualisierung“ erleben, sagen Sie voraus. Führt die von Ihnen verlangte „Flexibilität als Grundkompetenz“ nicht zu einer Verwässerung des Profils?

GUNDLACH: Nicht, wenn wir erkennbar bleiben. Der Einzelne sucht sich heute aus, was ihm gefällt. Wir können ihm allerdings kein Rundum-sorglos-Paket bieten. Bei uns gibt es im Kern die evangelische Freiheitstheologie, die sich aus freien Stücken an den Nächsten und die gesellschaftliche Mitverantwortung bindet. Profil zu haben bedeutet aber auch, dass andere es kritisch sehen. Unsere Kirche kann nicht everybody’s darling sein. Oder anders gesagt: Wer nach allen Seiten hin offen ist, ist auch nicht ganz dicht.

Kirchen vollziehen eine Gratwanderung zwischen treuen Traditionalisten und modernen Erneuerern. Welche Bedürfnisse vereint die Zielgruppen?

GUNDLACH: Der Brückenschlag gelingt, wenn man Brückenpfeiler errichtet. Die Gemeinsamkeiten müssen wir stark machen: Für beide Gruppen sind wir die Kirche des Wortes, der Bibel und des Glaubens, und damit auch die Kirche des Diskurses und des Ringens um den rechten Weg. Die zu Recht vermuteten Konflikte können und wollen wir gar nicht lösen, denn Spannung hält lebendig. Mir ist aber auch schon Schlimmeres begegnet als eine Kirche, die um den gemeinsamen Weg streitet.

Was sagt die Marktforschung über evangelische Typen?

GUNDLACH: Marktforschung heißt bei uns „Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung“ und findet seit 1973 alle zehn Jahre statt. Die letzte war 2004, wir planen die fünfte. Laut diesen Untersuchungen erwarten die meisten Menschen von uns vor allem eine Kirche, in der gut gepredigt wird und die an den wichtigen Wendepunkten des Lebens, also bei der Taufe, der Trauung und der Beerdigung gestaltend und begleitend da ist.

Als Kerngeschäft bezeichnen Sie „Gottesdienste in aller Vielfalt“, beklagen aber das Kopflastige und die Ritualarmut. Welche Art von Kirchenfeier empfehlen Sie?

GUNDLACH: Es gibt in unserer Kirche sehr, sehr viele schöne und gelungene Gottesdienste; aber natürlich kann man immer noch etwas besser machen. Unsere Gottesdienste haben mitunter zu wenig spirituelle und theologische Tiefe. Umfragen zeigen auch, dass die meisten Gottesbesucher vor allem eine gute Predigt erwarten, die lebendig, lebensnah und konkret das Leben vor Gott deuten. Auch Kirchenmusik ist ein großer Schatz und vielen sehr wichtig; aber auch hier müssen wir flexibel bleiben und nicht nur Musik von Bach zelebrieren – so schön die ist. Im Kern aber gilt für Gottesdienste auch das sogenannte Bahn-Gesetz, das lautet: Ein verspäteter Zug schadet dem Image mehr als fünfzig pünktliche Züge.

Sie selbst sind als Pastor in Hamburg neue Wege gegangen, um Kirchendistanzierte zu erreichen. Waren Ihre Gottesdienste zu Krimis und Hollywoodfilmen erfolgreich?

GUNDLACH: Ja, aber Themengottesdienste zu Literatur und Film gab es schon lange. Heute ist es wichtiger, neue Orte und Gelegenheiten für Gottesdienste zu suchen, an denen wir Gläubige antreffen können: in den Ferien, in Schulen, am Strand oder im Kino. Alle diese Orte können auch Gelegenheit zur Sehnsucht und Suche nach der Gottesgegenwart sein.

Also netzwerkorientierte Angebote wie Akademie- und Passantengemeinde oder Tourismuskirchen?

GUNDLACH: Ja, wir brauchen neue Foren der Sammlung, nicht nur sonntags, sondern überall und jederzeit.

Müsste Ihre Kirche auch stärker mit der eigenen Symbolik werben?

GUNDLACH: Wenn es nicht zur Trivialisierung verkommt, ja. Und wir haben ja gehaltvolle und tiefsinnige Symbole mit dem Kreuz, dem Taufstein oder dem Wasser. Sie müssen nur erschlossen werden.

Und welche eigene oder fremde Marketingkampagne halten Sie für so vorbildlich, dass sie für die evangelische Kirche zukunftsweisend sein könnte?

GUNDLACH: Der Reformator Martin Luther schlug am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen in Wittenberg an die Tür der Schlosskirche – das gilt als Beginn der Reformation. Das Jubiläum 500 Jahre später im Jahr 2017 ist eine Riesensache. Es sind noch ein paar Jahre bis dahin, aber wir werden uns im „Marketing“ darauf konzentrieren.

Worauf genau konzentrieren Sie sich im Marketing zum Reformationsjubiläum?

GUNDLACH: Ich frage ich mich schon, ob unser Media-Investment fein genug justiert und zielgenau genug ist. Für unser Jubiläum wollen wir möglichst viele Kräfte ansprechen, es soll als großes internationales und ökumenisch einladendes Fest gefeiert werden (lacht). Tragen Sie sich den Termin ruhig schon mal ein!

Das Gespräch führte Thorsten Garber.

Mehr über das Interview mit dem Cheftheologen Dr. Thies Gundlach sowie die Titelstory „Kirchenmarketing“ lesen Sie in der aktuellen Ausgabe der absatzwirtschaft, Nr. 4-2011.

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