Teil 2 der Reihe „Mehr als Marketing“: Die Sündenfälle des Marketings

Christian Thunig, Managing Partner bei Innofact, beschreibt im zweiten Teil seines Fachartikels, wie es zur der „Nutzlosigkeit“ des Marketings kommen konnte. Was könnten Gründe sein? Das Marketing oder die Treiber der Disziplin haben einige entscheidende Fehler gemacht. Sie haben dem Marketing die Substanz und strategische Dimension geraubt, so dass das Marketing in den Ruf kam, eher die leichte Muse innerhalb der Unternehmensfunktionen zu sein.

Aber wir müssen auch ehrlich feststellen: Viele haben an der „Nutzlosigkeit“ des Marketings mitgearbeitet. Dies läßt sich leider auch in einer Studie („The Loss of the Marketing Department’s Influence: Is It really Happening? And Why Worry?“) von den Marketing-Professoren Christian Homburg, Arnd Vomberg und Margit Enke feststellen, die 1996 und in einer Wiederholung 2013 die Bedeutung der Marketingabteilung in Unternehmen untersuchten. Sie konstatierten: Der Bedeutungsverlust beim Marketing ist im Vergleich zu den anderen Unternehmensbereichen am höchsten. Und: Insbesondere in den für den Erfolg als hoch relevant erachteten Bereichen Pricing, Neuproduktentwicklung und strategische Entscheidungen verliert das Marketing erheblich. Was könnten Gründe sein? Das Marketing oder die Treiber der Disziplin haben einige entscheidende Fehler gemacht. Sie haben dem Marketing die Substanz und strategische Dimension geraubt, so dass das Marketing in den Ruf kam, eher die leichte Muse innerhalb der Unternehmensfunktionen zu sein. Zum anderen hat man zugelassen, dass das Marketing eine Abteilung wurde. Das führte dazu, dass die Marketer nicht mehr den Zugriff auf die gesamte Wertschöpfungskette hatten, sondern nur noch den kommunikativen „Zuckerguss“ lieferten, nachdem das Produkt bereits fertig war. Mit beiden Entwicklungen will ich mich im Folgenden beschäftigen:

Die Banalisierung des Marketings

Erstaunlich und völlig unerklärlich ist, dass Marketingentscheider es zugelassen haben, dass ihre Disziplin so verkürzt wurde. Allein, wenn man das Marketing im Handel anschaut, ein Bereich, der auch eher als unsexy gilt, dann wird schnell klar, welche Komplexität das Marketing zu bewältigen hat: von Sortimentssteuerung und Category Management über Vermeidung von Out-of-stock-Situation, Abstimmung von Kommunikation mit Distribution, (dynamische) Preisstellung und in Zeiten von E-Commerce bis hin zur Synchronisierung mit dem Warenbestand in Zentrallagern, in Filialen und dem oder den Online-Shops.

Das sind Projekte, die im Zweifel Jahre dauern mit Beratern und Systemhäusern angegangen werden und sehr teuer sind. Ist das ein Job für den ITler, den Controller, den Personaler oder den CEO? Nein, genau das ist der Job eines Marketers. Er muss sich mit den Kommunikationskanälen, mit IT (zumindest wissen, was dort möglich ist), mit Beschaffungsketten und letztlich mit den Bedürfnissen am Markt auskennen.

In meiner Tätigkeit als Chefredakteur der absatzwirtschaft hat mich das eigentlich immer gewundert, dass es keinen Widerstand gegen die Banalisierung gegeben hat: Zum einen, dass Marketing häufig in der unternehmerischen Praxis mit Werbung und Kommunikation gleichgesetzt wurde und wird und zum anderen, dass in der ganzen Branche definitorisch immer sehr lax mit Begrifflichkeiten umgegangen wurde. Das häufigste Phänomen war, neue Begriffe für alte Sachverhalte zu prägen. Allein die Verwirrung um die Konzepte im Zeitablauf wie Dialogmarketing, One-to-One und Customer Relationship Management (ist es IT-Lösung oder Philosophie?) konnte und kann man einem Außenstehenden aber durchaus im Management arbeitenden kaum vermitteln. Später kam der Begriff Customer Centricity auf, was wiederum dem CRM sehr nahe steht, aber definitiv eine Haltung und Philosophie gegenüber dem Kunden zum Ausdruck bringt. Wenn man dann noch bedenkt, dass Marketing eigentlich das Konzept und die Philosophie zum Markt hin denken und zum Markt hin handeln bedeutet, fragt man sich, warum das Marketing immer neue Ausdrücke braucht, für einen Grundkonsens, auf den sich die Branche dann doch letztlich – und das ist die gute Nachricht – immer wieder einigen konnte. Es geht schlicht und einfach um den Kunden.

Laxe Begriffsdefinitionen, Vermengung von operativen und strategischen Ebenen: Das Marketing ist der Banalisierung anheimgefallen

Was das Marketing ebenfalls verwässert hat, ist die Vermengung von operativen Tätigkeiten mit der strategischen Ebene, die sich in begrifflichen Kreationen wie Newsletter-Marketing, E-Mail-Marketing, Affiliate Marketing und vielen mehr wiederfinden. Ein weiterer schwerwiegender Sündenfall ist die Prägung des Begriffs „Marketing-Automation“, denn es impliziert zwei Bedeutungsebenen: Die erste, dass es möglich ist, wenn der Begriff das auch nicht ursächlich meint, Marketing in irgendeiner Form zu einem autonom agierenden System machen zu können. Die zweite, dass eine Funktion, die im Presales angesiedelt ist, nämlich regelbasiertes digitales Leadmanagement zu machen, mit Marketing assoziiert wird. Generell muss man übrigens konstatieren, dass die Digitalisierung das Marketing tüchtig disruptiert hat und das ist nicht immer nur gut. Ein Techcrunch-Artikel von Samuel Scott aus dem Jahre 2016 „How Google Analytics ruined Marketing“ bringt das sehr schön auf den Punkt: „Marketers in the high-tech world who use phrases such as „social media marketing“, „Facebook marketing“ and „content marketing“ do not understand the basic difference between marketing strategies, marketing channels and marketing content. And Google Analytics is to blame.“

Der Artikel beschreibt sehr schön, wie eine Entwertung der strategischen Anlage von Marketing stattgefunden hat. Auf der anderen Seite wurden, um der Vielfalt der Kanäle gerecht zu werden und vielleicht auch Teile des Marketings aufzuwerten (oder das Negativ-Image abzustreifen?) immer neue Job-Bezeichnungen geprägt: auf der CMO-Ebene so etwas wie Growth Manager oder Revenue Officer und auf der operativen Ebene so etwas wie Content Marketing Manager, Inbound Marketing Manager, Community Manager, SEO-Manager, usw.

Auch gibt es kaum eine Branche, die ihr eigenes Wissen so gerne selbst vergisst. Nur ein Beispiel: Die Erkenntnisse, die der Saarbrücker Professor Kroeber-Riel in den 1970er zum Thema Kundenpsychologie und -verhalten schöpfte, waren wegweisend. Aber erst der US-Professor Daniel Kahneman (Langsames Denken, schnelles Denken) musste kommen, um das Thema Psychologie unter dem Begriff „Behavioral Economics“ wieder auf die Tagesordnung zu bringen. Dabei war diese Entwicklung so wichtig und hätte gerade auch in Deutschland größeren Raum bekommen müssen. Das Verhalten von und bei Entscheidungen ist sozusagen der Schlüssel für das Marketing. Ein Mangel der Disziplin ist sicherlich auch, dass es eine deskriptive Wissenschaft ist. Auch wenn immer wieder versucht wird, erfolgreiches unternehmerisches Handeln in eine Erfolgsformel zu gießen – es funktioniert leider nicht, da die Umweltfaktoren derart unterschiedlich sind – von Unternehmen zu Unternehmen und von Zeitpunkt zu Zeitpunkt und von Mensch zu Mensch – dass eine Reproduktion von Erfolgsabfolgen schlicht unmöglich ist. Nassim Taleb, sozusagen der Philosoph des Ungeplanten und Unplanbaren (Der schwarze Schwan), geht in seinem Buch „Narren des Zufalls“ (2001) auf über 300 Seiten darauf ein, wie wenig wir letztlich planen können. Das betrifft übrigens fast alles im Leben. Dennoch versuchen Wissenschaft und Praxis immer wieder, Marketing zu systematisieren und Erfolgsketten zu entwickeln.

Die Verdammung des Marketings in Silos

Ein grundsätzlicher Fehler war auch, dass es irgendwann eine Marketingabteilung gab. Das hätte nie passieren dürfen. Ein Unternehmen darf nicht die Verantwortung für den Markt in einer Abteilung abladen. Das ist zudem widersinnig. Ein Unternehmen lebt von der Bedarfsdeckung. Das heißt, Unternehmen müssen (wieder) mit jeder Faser auf den Markt hören.

Das führt zu zwei Dingen: Unternehmen, die so groß sind, so dass das Marketing in eine Abteilung wegsperrt wird, sind eigentlich zu groß und nicht mehr auf den Markt ausgerichtet. Und: Unternehmen, die Marketing in eine Abteilung sperren, haben aufgehört auf den Markt zu hören. Gründer und Chairman von Simon-Kucher & Partner, Hermann Simon, belegt dies mit Zahlen und spricht davon, dass nur acht Prozent der Mitarbeiter aus Großunternehmen Kundenkontakt haben, im Gegensatz zu den mittelständisch strukturierten Hidden Champions mit 38 Prozent.

Kleine Unternehmen haben daher von Natur aus immer so große Chancen, alte Märkte aufzurollen und neue Märkte zu definieren, weil sie eigentlich immer mit dem Marketing beginnen: sie kommen über Bedürfnisse, die sie erkannt haben – und das häufig mit echter Leidenschaft. Besonders plakativ sind hier sicherlich die Start-ups aus dem Silicon Valley, die regelrecht mit einer Mission für die Menschheit starten. Man mag das für übertrieben halten: Fakt ist, dass sie durchdrungen davon sind, Kunden wirklich eine Lösung zu bieten.

Die Marketingabteilungen müssen raus aus der babylonischen Gefangenschaft

Sie arbeiten eben marktorientiert. Und das ist vielleicht eine Lösung: Wir sollten uns als Marketingbranche dringend die auch sehr gebräuchliche Definition von de marktorientierten Unternehmensführung (wieder) zu Eigen machen. Denn auch alle erfolgreichen Unternehmen der aktuellen Generation haben eines gemeinsam: die Ausrichtung auf den Markt. Sie nennen es „Customer Centricity“. Um nichts anderes geht es. Der Ausgangspunkt ist der Kunde. Amazon hat wie kaum ein anderes Unternehmen zuvor, die Leistungen um den Kunden gebaut – in einer bemerkenswerten Ganzheitlichkeit von der Beschaffung, über die Logistik bis zum Aftersales. Amazon würde sofort unterschreiben, dass es marktorientiert handelt und geführt wird. Wenn man allerdings Amazonler mit der Vokabel „Marketing“ konfrontiert, verweisen sie in den funktionalen Bereich, der insbesondere Kommunikation über die verschiedenen Kanäle macht.

Teil 3 der Reihe „Mehr als Marketing“ folgt am Donnerstag, 28.6.