Sind Marken die besseren Menschen?

Was haben Bundeskanzlerin Merkel, Dadaisten im Zürich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Dissidenten in Ostdeutschland, und Sie und ich gemeinsam? Von allen werden persönliche und private Daten und Aktivitäten von Dritten systematisch gesammelt, gespeichert und mehr oder weniger intensiv und effektiv genutzt, um unser Leben zu beeinflussen.

Bemerkenswert ist nun, wie unterschiedlich wir diese gemeinsamen Erfahrungen bewerten. Zutiefst entrüstet reagieren wir, wenn die Telefonate unserer Bundeskanzlerin von fremden, wenn auch befreundeten, Geheimdiensten abgehört werden. Was die da wohl hören? Und was die wohl mit den Informationen anstellen? Amüsiert nehmen wir im Museum zur Kenntnis, dass in der liberalen Schweiz die Aktivitäten der Dadaisten von der Kantonspolizei verfolgt und ordentlich auf Karteikarten vermerkt wurden. Dass gleichzeitig um die Ecke in Zürich Lenin die große Revolution des Jahrhunderts plante, schien der Kantonspolizei nicht so wichtig. Froh sind wir, dass der sprichwörtliche deutsche Hang zur Perfektion auch im Bereich der staatlichen Ausspionierung von Bürgern (nur) „drüben“ stattgefunden hat und Gott-sei-Dank eben bereits Geschichte ist.

Alle trifft unsere Verurteilung: staatlicher Machtmissbrauch, Verletzung persönlicher Privatsphären, Anhäufung gefährlicher Datenberge, Orwellscher Überwachungsstaat.

Und wenn es um uns, Sie und mich, geht? Dann freuen wir uns, wenn dem Hersteller unseres Smartphones zu jeder Tages- und Nachtzeit bekannt ist, wo wir uns gerade aufhalten und uns deshalb präzise mitteilen kann, welche Tankstelle uns am nächsten ist. Wie bequem ist es, dass unsere Korrespondenz über Jahre hinweg nicht mehr von uns selbst mühsam in Aktenordnern abzuheften ist, sondern vom Anbieter unseres E-Mail-Systems automatisch auf seinen Servern sorgsam abgelegt wird. Wie schön ist es, wenn wir uns mit Freunden und Bekannten auf der Basis gestochen scharfer Fotos – geschossen aus dem All oder von der Straße vor der Tür – auch über große Distanzen darüber austauschen können, in welch hübsches Jugendstilhaus wir neu eingezogen sind. Und einen besonderen Glücksfall feiern wir, wenn auf dem Foto unseres allwissenden Online-Lexikons sogar unser vor dem Haus stehendes Auto deutlich zu erkennen ist. Geradezu gerührt sind wir, wenn unser Online-Buchhändler nicht nur unsere Bestellung liefert, sondern uns auch direkt nahelegt, was wir als nächstes auch noch lesen sollen. Früher mussten wir darüber immer selber angestrengt nachdenken. Und wie oft irrten wir!

Woher kommt unsere Begeisterung? Warum beurteilen wir die Ansammlung riesiger Datenmengen über uns bei Dritten hier positiv? Wieso lassen wir diese so bereitwillig und lückenlos wissen, wo wir wohnen, wo wir gerade sind, was wir gerne kaufen, mit wem wir uns regelmäßig austauschen? Warum vertrauen wir darauf, dass Missbrauch in diesen Fällen ausgeschlossen ist? Warum glauben wir den Marken, dass sie die angefeindeten staatlichen Übergriffe nicht unterstützen? Warum teilen wir deren Entrüstung über staatliche Missbräuche und bedauern mit ihnen, dass diese ihre Images gefährden?

Weil unsere Lieblingsmarken die „besseren Menschen“ sind?

Über den Autor: Jürgen Häusler ist Chairman von Interbrand Central and Eastern Europe. Der Markenexperte betreut zahlreiche renommierte Unternehmen in der strategischen Markenführung. Er ist Honorarprofessor für Strategische Unternehmenskommunikation an der Universität Leipzig, publiziert laufend zum Thema Marke und hält Vorträge an Universitäten, auf Kongressen und Tagungen.