Sieben Innovationsmythen

Was immer Sie zum Thema Innovation hören, nehmen Sie es nicht einfach kritiklos hin, stellen Sie es in Frage oder sogar auf den Kopf. Nicht (nur) der Kreativste, Schnellste und Risikofreudigste ist innovativ.

von Professor Dr. Dirk Ulrich Gilbert und Dr. André Kleinfeld

„Innovation braucht kreative Spezialisten, die mit modernen Technologien neue Produkte entwickeln und sie schnell und risikobereit auf den Markt bringen.“ Sie sagen, das stimmt? Es lohnt sich näher hinzusehen und bestimmte Aspekte differenziert zu betrachten. Die folgenden „Sieben Innovationsmythen“ sollen dazu beitragen, häufig zu hörende Aussagen zum Thema Innovation nicht einfach kritiklos hinzunehmen, sondern sie in Frage oder sogar auf den Kopf zu stellen.

Mythos 1: Innovation beginnt ausschließlich mit Kreativität
Obwohl sich auch in der Managementliteratur mittlerweile die Ansicht verbreitet, dass Innovation und Kreativität nicht unbedingt in einem direkten kausalen Zusammenhang stehen, hören Führungskräfte immer noch gern die Mär von der Kreativität als wahrer Quelle von Innovation. Und das, angesichts der tatsache, dass viele Unternehmen ihre Innovationen auf der Basis systematischer Analysen entwickeln. Gerade Japans Unternehmen zeigen immer wieder, dass sie – stärker als in anderen Nationen – innovative Ideen für Produkte mit solider Marktforschung gewinnen. Wie sagte der US-amerikanische Ingenieur und Erfinder Thomas Alva Edison: „Genie ist ein Prozent Inspiration und neunundneunzig Prozent Transpiration.“

Fazit: Unternehmen können Ideen weitgehend systematisch generieren, wenn auch nicht standardisieren. Dies schließt Kreativität nicht aus, zeigt aber, dass es möglich und notwendig ist, Innovationen planmäßig und zielgerichtet herbeizuführen.

Mythos 2: Jedes Unternehmen braucht eine Innovationsabteilung
Ebenso wie eine Universität mit internationalem Anspruch keinen Lehrstuhl für Internationales Management braucht, sondern eine internationale Ausrichtung aller Lehrstühle, so sollten Unternehmen ihr Innovationsmanagement nicht ausschließlich in den Arbeitsbereich einer kleinen Gruppe von ausgewählten Personen geben. Es sollte als wesentlicher Bestandteil der Unternehmensphilosophie letztlich alle Mitarbeiter ansprechen. Dass Unternehmen keine Innovationsabteilung, sondern eine Innovationskultur brauchen, in der alle Mitarbeiter den Innovationsgedanken leben, lebt das amerikanische Technologieunternehmen W. L. Gore vor. W. L. Gore, der Erfinder von Gore-Tex, entschied, eine „Innovationsdemokratie“ zu kultivieren: Jeder Mitarbeiter sollte zehn Prozent seiner Zeit damit verbringen, über neue Einsatzgebiete für das einzigartige Material, das das Unternehmen entwickelt, auszudenken. Gore erhielt 2005 die Auszeichnung: bester mittelständischer Arbeitgeber.

Fazit: Innovation ist zu wichtig, um es einer einzelnen Abteilung zu überlassen. Mit der Bildung innovationsfördernder Strukturen und Lernkulturen sollten Unternehmen versuchen, das Innovationspotenzial aller Mitarbeiter auszuschöpfen.

Mythos 3: Ohne Forschung & Entwicklung keine Innovation
Eine Erhebung des Fraunhofer-Institutes für Systemtechnik und Innovationsforschung zeigt, dass Unternehmen mit einer innovativen Geschäftsmodellausrichtung ein weitaus größeres Beschäftigungswachstum aufweisen als Unternehmen mit einem deutlichen Innovationsfokus auf F&E. Gerade innovative Geschäftsmodelle können nicht nur zu einem Unternehmenswachstum, sondern auch zu grundlegenden Veränderungen der Strukturen und Spielregeln von Märkten führen. Die hat die amerikanische Kaffeehauskette Starbucks beispielsweise nicht den Kaffee, sondern mit einem innovativen Geschäftsmodell ein neuartiges Konsumerlebnis „erfunden“. Durch das systematische Aufbauen einer einzigartigen Marke, neue PR- und Internationalisierungsstrategien sowie das stetige Einführen neuer Produkt- und Erlebniskonzepte (zum Beispiel Starbucks Hear Music®) veränderte das Unternehmen die gesamte Kaffeebranche.

Fazit: Da es Konkurrenzunternehmen häufig leicht fällt, F&E-basierte Produkte zu kopieren, sollten Unternehmen Innovationen nicht nur im Produktbereich, sondern verstärkt im Bereich der Geschäftsmodelle und Strategien verfolgen. Der ausbleibende Erfolg einiger Produkteinführung ist auch darauf zurückzuführen, dass Unternehmen neue Produkte mit den klassischen Marketingkonzepten und herkömmlichen Geschäftsmodellen auf den Markt bringen.

Mythos 4: Innovation ist das Gegenteil von Imitation
„Ein Plagiator ist selbstverständlich niemals ein Plagiator. Er schafft ja etwas anderes, als es das Original ist.“ Was der polnische Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec hier ironisch meint, trägt das Argument zur Widerlegung dieses Mythos in sich: Wenngleich Kunden Imitationen in der Regel nicht als neu wahrnehmen, sind sie für das imitierende Unternehmen durchaus neuartig und damit auch innovativ. Ein Unternehmen kann darüber hinaus zeitgleich als Innovator und Plagiator operieren. Ein bekanntes Beispiel: Der Schweizer Pharmakonzern Novartis stellt sowohl forschungsintensive Arzneimittel als auch Generika her.

Fazit: Intern entscheidet für das Unternehmen weniger der Neuigkeitsgrad der Produkte auf dem Markt, sondern die jeweilige Expertise. Aber auch extern zählt letztlich nicht der Neuigkeitsgrad, sondern der Erfolg, den die Innovation beziehungsweise Imitation auf dem Markt erzielt.

Mythos 5: Schnelligkeit ist der wichtigste Innovationsfaktor
„Bei Erfindungen ist der Erste immer der Dumme; den Ruhm kassiert der Zweite, und das Geschäft macht erst der Dritte.“ Auch wenn die Aussage des deutschen Autors Martin Kessel stark pauschalisiert, so macht er doch auf ein Problem aufmerksam, das Unternehmen in der Praxis häufig verdrängen: Zwar ist es gut, wenn Unternehmen als Erste auf den Markt kommen („first to market“); wichtiger aber ist es, dass Abnehmer das Unternehmen als Erster wahrnehmen („first to mind“). Dies erfolgt meist dann, wenn die Kunden einen konkreten Mehrwert für sich erkennen. Nicht Nokia, sondern Motorola erwies sich als Pionier der Mobiltelefone, und auch Clausthaler brachte nicht das erste alkoholfreie Bier auf den deutschen Markt.

Fazit: Neben der Schnelligkeit entscheidet die Form der Marktbearbeitung über den Erfolg einer Innovation. Fehler und Versäumnisse in der Markteinführung nutzt der Wettbewerb in der Regel gnadenlos aus.

Mythos 6: Innovation = hohes Risiko
Innovationen bergen aufgrund ihrer Neuartigkeit zusätzliche Risiken. Dennoch halten viele Unternehmen Innovationen für zwingend notwendig, um das Überleben langfristig zu sichern. Ein Festhalten an bisherigen Produkten, Prozessen und Geschäftsmodellen kann tatsächlich ein noch größeres Risiko darstellen. Diese Erfahrung machte das ehemalige deutsche Vorzeigeunternehmen Triumph-Adler, das auch nach dem Siegeszug des Computers an der Schreibmaschinenproduktion festhielt. Ebenso wartete der renommierte Fernsehhersteller Loewe erst einen massiven Umsatzeinbruch ab, bevor er als Late Follower in die Flachbildschirmproduktion einstieg.

Fazit: Die Höhe des unternehmerischen Risikos hängt weniger vom Innovationsgrad ab als von der spezifischen Marktsituation. Daher sollten Unternehmen stets – sowohl bei der Verfolgung innovativer als auch konservativer Strategien – das jeweilige Risiko bewerten. Wie eine Gemeinschaftsstudie von The Galileo Consulting Group (Ingelheim), European Business School (Oestrich-Winkel) und University of New South Wales (Sydney) unter 103 deutschen Großunternehmen zeigt, kommt nur eine Minderheit dieser Anforderung entgegen. Der Einsatz von Instrumenten, die im Rahmen der Strategieentwicklung explizit Risiken und Komplexität abbilden (zum Beispiel Szenarioanalyse und interaktive Strategiemodellierung) ist noch immer stark unterrepräsentiert.

Mythos 7: Der Innovationserfolg lässt sich nur ex post evaluieren
Der endgültige Erfolg einer jeden Innovation lässt sich in der Tat erst im Rückblick beurteilen. Da Planung aber stets zukunftsbezogen ist, ist es eine wesentliche Aufgabe des Managements, den möglichen Erfolg einer Innovation ex ante abzuschätzen. Diese Abschätzung erfolgt in praxi – wenn überhaupt – eher „aus dem Bauch heraus“ als auf der Basis einer strukturierten Bewertung.

Fazit: Unternehmen sollten potenzielle Innovationen bereits in der Ideenphase bewerten. Zum einen können sie so hohe Fehlinvestitionen vermeiden. Zum anderen entstehen manche Ideen überhaupt erst, wenn Unternehmen systematisch qualitativ evaluieren.

Was zeigen die Innovationsmythen?
Zum einen verdeutlichen die Mythen, dass sich vielschichtige Betrachtungen um das Thema ranken. Es geht bei weitem nicht (nur) darum, sich als der Kreativste, der Schnellste und der Risikofreudigste zu erweisen. Zum anderen zeigen sie auf, dass Unternehmen nicht nur im Zusammenhang mit Innovationen Neues, Unsicheres und Komplexes erwartet. Auch nichtinnovative Projekte benötigen Managementansätze, die Dynamik, Unsicherheit und Komplexität abbilden. Nicht Innovationsmanagement ist das Gebot der Stunde, sondern die Entwicklung und der Einsatz von Innovationen im Management.

Autoren:
Prof. Dr. Dirk Ulrich Gilbert ist Professor of Management an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg, Dirk.Gilbert@phil.uni-erlangen.de.

Dr. André Kleinfeld ist Senior Consultant bei der Strategieberatung The Galileo Consulting Group in
Ingelheim, A.Kleinfeld@gcgroup.de.

eingestellt am 24. Mai 2006