Schwarzer oder blauer Schwan?

Prognosen sind schwer zu stellen, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen. Dennoch werden sie gemacht mit dem Resultat: Sie stimmen, bis das Unvorhergesehene passiert
Vince Ebert

Vor einigen Jahren schrieb der Autor Nassim Taleb ein höchst bemerkenswertes Buch mit dem Titel „Der Schwarze Schwan“. Taleb ist kein Vogelkundler, sondern Mathematiker. Als „Schwarzen Schwan“ bezeichnet Taleb ein extrem seltenes, unvorhersehbares Ereignis, das Ihr Leben, Ihr Geschäftsmodell oder die Welt als Ganzes vollkommen auf den Kopf stellt.

Schwarze Schwäne sind zwar selten, aber sie können überall auftauchen. Meine Frau zum Beispiel bezeichnet sich als eine exzellente Autofahrerin. Ich sehe das naturgemäß anders. Und glauben Sie mir, würden Sie einmal mit ihr durch die Frankfurter Innenstadt fahren, wären sie hundertprozentig meiner Meinung. Hinter einem Steuer verwandelt sich meine entzückende Gattin in einen testosterongeschwängerten, italienischen, jugendlichen Vollprolo, der es für eine bodenlose Unverschämtheit hält, dass die Durchschnittsgeschwindigkeit im Stadtverkehr unter 120 km/h liegt. „Ich hatte noch nie einen Unfall“, sagt sie immer. Was möglicherweise daran liegt, dass die anderen Verkehrsteilnehmer spontan eine Rettungsgasse bilden, wenn sie meine Frau von hinten anrauschen sehen.

Unbegreiflicherweise ist sie tatsächlich in ihrer inzwischen 28-jährigen Formel-1-Karriere unfallfrei. Insgesamt etwa 20.000 Autofahrten! Außerdem trinkt sie nicht, und wenn, fährt sie keinesfalls Auto. Vergangenes Jahr aber waren wir auf einer Party eingeladen und sind dort ziemlich versackt. Ich nenne keine Details, aber meine Frau fährt nicht nur wie italienische Vollproleten, sie kann – wenn es darauf ankommt – auch trinken wie zehn Russen. Und so stand sie also nachts um halb drei voll wie eine österreichische Gebirgshaubitze vor unserem Auto und lallte: Solllllichhhh faaaaarnnn?

Was denken Sie? Sollte sie? Vielleicht wagen Sie ja eine kleine Zukunftsprognose und sagen: Na ja, rein statistisch gesehen … warum eigentlich nicht? Immerhin ist sie ja 20.000-mal unfallfrei unterwegs gewesen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie einen Unfall baut, ist also denkbar gering, oder?

Klassischer Statistikfehler! Denn während ihrer 20.000 Fahrten war meine Frau selbstverständlich nüchtern. Wahnsinnig zwar, aber nüchtern. Das heißt, der statistische Vergleichswert für unfallfreies, aber betrunkenes Fahren beträgt bei ihr nicht 20 000, sondern NULL Fahrten.

Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Sie können aufgrund der vorliegenden Fakten überhaupt keine Prognose für die Fahrt meiner sturzbesoffenen Frau erstellen, weil wir es hier mit einem extrem seltenen Ereignis, einem sogenannten Schwarzen Schwan zu tun haben. In dem Fall handelte es sich sogar um einen „blauen Schwan“. Deswegen habe ich diesen blauen Schwan auch lieber in ein Taxi gepackt und bin mit ihm nach Hause gefahren.

Die meisten Zukunftsprognosen scheitern, weil buchstäblich jedes Prognosemodell konsequent Schwarze Schwäne ausblendet. Man prognostiziert die Zukunft, indem man sich die Vergangenheit ansieht, sie hochrechnet und das hochgerechnete Stück vorne wieder anflanscht. Und das funktioniert nur dann, solange nichts Ungewöhnliches passiert.

Aber blöderweise passiert irgendwie immer irgendetwas Ungewöhnliches: ein neues revolutionäres Produkt, eine umwälzende wissenschaftliche Entdeckung, überraschende politische Umbrüche oder unvorhersehbare verheerende Naturkatastrophen. Und das macht die Sache mit den Prognosen so schwierig. Doris Day hatte recht, als sie in „Que Sera, Sera“ sang: „the future’s not ours to see“. Und erst recht nicht von Experten. Als 1989 die Mauer gefallen ist, hat Helmut Kohl gesagt: „In drei Jahren haben wir dort drüben blühende Landschaften!“ Kurz zuvor habe ich mit ein paar Kommilitonen unsere Studenten-WG renoviert. Sechs Monate lang. Daraufhin habe ich hochgerechnet: Fünf neue Länder gegen eine Drei-Zimmer-Wohnung. Und da wusste ich: Der Kanzler verarscht uns. Er hat keinen blassen Schimmer, was er da gerade sagt.