Retouren im E-Commerce – Händler bitten in die virtuelle Umkleidekabine

Retouren gehören zum Geschäftsmodell im E-Commerce. Per se sind sie nichts Schlimmes, sie dürfen nur keine ungesunde Höhe erreichen. Mit technischen Tricks sagt die Industrie dem Rücksendewahn den Kampf an.

Kira kauft Klamotten am liebsten online ein. Weil die Größen bei jeder Marke unterschiedlich ausfallen, bestellt sie von jedem Teil immer gleich zwei Exemplare – und schickt eines nach der Anprobe zu Hause in jedem Fall zurück.

Auch wenn ihr Verhalten höchst realistisch ist: Kira ist eine Kunstfigur, ersonnen für ein Werbevideo des Startups Upcload. Das Berliner Unternehmen sorgte mit einer Software für Furore, mit der sich jeder zu Hause allein mit Hilfe einer Webcam vermessen kann. In Shops, die mit Upcload zusammenarbeiten, soll man so passgenau bestellen. Ein Dutzend Händler setzt den Service zumindest testweise schon ein.

Passformberatungen wie diese könnten der Bekleidungsbranche helfen, ein wachsendes Problem beim Onlineverkauf in den Griff zu bekommen: Kunden stellen im Internet große Warenkörbe zusammen und schicken immer mehr Sachen wieder zurück – das zeigt eine gerade veröffentlichte Studie des Forschungsinstituts ibi an der Universität Regensburg. Sie basiert auf den Angaben von 357 Online-Händlern. Die Hälfte von ihnen beklagt, dass die Retouren in den letzten Jahren zugenommen haben.

Besonders stark betroffen sind die Modehändler. Der Umfrage zufolge hat die Hälfte von ihnen Retouren von mehr als 25 Prozent. Beim Branchenriesen Zalando, der anfangs mit dem Slogan „Schrei vor Glück – oder schicks zurück“ geworben hat, wird sogar jeder zweite Artikel retourniert. Das offenbarten die Gründer jüngst in einem Interview – nachdem ihnen eine Retourenquote von gar 70 Prozent unterstellt worden war.

„Retouren gehören zum Geschäftsmodell im E-Commerce“, sagt Matthias Schrader, Chef der Digitalagentur Sinner-Schrader. „Per se sind sie nichts Schlimmes, nur dürfen sie keine ungesunde Höhe erreichen.“ Der Berater empfiehlt aussagekräftige Produktfotos, detaillierte Texte und Hinweise darauf, ob ein Kleidungsstück eher groß oder klein ausfällt.

Die Umfrage des Forschungsinstituts ibi belegt, dass die meisten großen E-Commerce-Händler dies schon verinnerlicht haben. Nun suchen sie nach weiteren Methoden, um ihre Retourenquote weiter zu senken.

Experimente mit virtuellen Anproben

Wenn Kleidungsstücke zurückgeschickt werden, liegt das in der Regel daran, dass sie dem Kunden am eigenen Körper doch nicht gefallen, sie schlecht sitzen oder nicht passen. Die Branche testet deswegen verschiedene Systeme der virtuellen Anprobe. So können Online-Kunden bei H&M verschiede Models mit Kleidungsstücken ausstatten – und sich darüber ganze Outfits zusammenstellen.

Einen vielversprechenden Ansatz im Schuhverkauf verfolgt das US-Unternehmen Shoefitr, das Händlern eine Software zur Verfügung stellt. Kunden können in einer Datenbank nach ihren alten Schuhen suchen. Shoefitr gleicht die Maße mit dem Sortiment des Online-Händlers ab und empfiehlt ähnlich geschnittene Schuhe.
Versuche gibt es auch mit Körperscannern, die Firmen wie Bodymetrics oder Styku anbieten. Die Idee: Nach einem 3D-Scan können Kunden passformgenau online bestellen. Wirklich durchgesetzt haben sich die Scanner bislang nicht. Sie haben den großen Nachteil, dass der Kunde sich erst einmal offline vermessen lassen muss.

Aussichtsreicher ist deswegen die Webcam-Lösung von Upcloud. Der Versandhandelsriese Otto testet das System bei mehreren hundert Artikeln der Marken Melrose und The North Face. „Da wir die Lösung in kleinem Rahmen testen, sind die Nutzungszahlen überschaubar“, sagt Otto-Sprecherin Ulrike Abratis. „Dennoch haben mittlerweile mehrere tausend Kunden, die Upcload genutzt haben, den Artikel schließlich auch bestellt.“ Ob die Anwendung ausgeweitet werde, stehe derzeit aber noch nicht fest.

Warenkörbe analysieren

Es gibt auch andere Ansätze, um Rücksendungen zu vermeiden. So bieten manche Händler ihren Kunden während des Bestellprozesses eine telefonische Beratung an. Andere lassen Bestellungen von einer Software analysieren und kontaktieren ihre Kunden bei auffälligen Warenkorbzusammensetzungen vor dem Versand – etwa, wenn gleich mehrere Fernseher im virtuellen Einkaufswagen landen.

Agenturchef Schrader steht solchen Systemen skeptisch gegenüber: „Häufig stellt sich heraus, dass Kunden auch für ungewöhnliche Zusammensetzungen gute Gründe haben. Es ist schwierig, das in Algorithmen abzubilden.“ Software könne aber helfen, Kunden auszusortieren, die in der Vergangenheit mehrmals komplette Einkäufe zurückgeschickt haben. Telefon-Hotlines sind nach Einschätzung Schraders selten eine Lösung für das Retourenproblem – die Kosten für das Call-Center seien schlicht zu hoch.

Im internationalen Vergleich gelten die Deutschen als besonders rücksendefreudig. Das hat viel mit dem deutschen Widerrufsrecht zu tun, wonach Verbraucher ihre Waren noch zwei Wochen nach Erhalt ohne Angabe von Gründen zurücksenden können. Die Kosten dafür muss der Verkäufer tragen, wenn der Warenwert über 40 Euro beträgt.

Eine neue EU-Richtlinie erlaubt ab 2014, diese Kosten auf den Verbraucher abzuwälzen. Während große Online-Händler schon angekündigt haben, davon keinen Gebrauch zu machen, ergibt sich bei den vom Forschungsinstitut ibi befragten Händler ein anderes Bild: Demnach planen 86 Prozent der Unternehmen mit einem Jahresumsatz bis zehn Millionen Euro, die Retourenkosten weiterzugeben.

„Es wird sich zeigen, ob sich diese Pläne im Wettbewerb auch durchsetzen lassen“, sagt Sabine Pur, Projektleiterin am ibi. „Es besteht die Gefahr, dass Kunden eher bei einem Wettbewerber bestellen, der die Kosten für eine mögliche Retoure selbst trägt und nicht an seine Kunden weitergibt.“

Sie empfiehlt den Händlern, Rücksendungen in die Gesamtkalkulation aufzunehmen. Denn erstaunlicherweise tun das viele noch nicht, sagt Pur: „Fast 40 Prozent der Studienteilnehmer gaben an, dass sie die Kosten für ihre Retouren nicht kennen.“

von von Steffen Ermisch, Quelle: Handelsblatt