Schnell, schneller, automatisch – Wie Realtime Bidding funktioniert

Der automatisierte Mediahandel durchdringt den deutschen Markt. Das Auktionsmodell des Realtime-Bidding ist dabei Vorreiter, wird aber skeptisch beäugt. Wie das System funktioniert, verstehen dabei die wenigsten

Man müsste meinen, Ciro Scognamiglio hätte keine Zeit für Lektionen, so schnelllebig ist das, womit er sein täglich Brot verdient. Der Mann im blauen Hemd aber zeigt keinerlei Hektik. Mit einem dicken Stift in der Hand malt er seelenruhig auf die glänzende Fläche eines Whiteboards. Mehrere Pfeile führen von einem Kasten zum anderen, Zahlen und Buchstabenfetzen drängen sich dazwischen. Wie ein Professor seinen Lehrlingen, erklärt der gebürtige Italiener geduldig Fachbegriffe. Scognamiglio ist dabei, das Geschäftsmodell seiner Firma zu erläutern. Der 37-Jährige ist Deutschland-Chef des Technologieanbieters Media IQ Digital. Das Unternehmen handelt in Echtzeit mit digitalen Werbeplätzen – auch Realtime-Bidding (RTB) genannt. In Millisekunden werden dabei Nutzerkontakte über das Internet verscherbelt, in der Zeit zwischen Eingabe einer URL im Browserfenster und der Anzeige der angesteuerten Websites.

Nur Technologie kann die Komplexität des Systems noch erfassen

In den USA und England längst fester Bestandteil des Mediahandels, ist das Modell seit ein paar Jahren dabei, auch die hiesige Marketingwelt zu durchdringen. Rob Norman, Digitalchef des Agenturriesen Mediacom, fasst die Bedeutung der neuen Spielart in einen einzigen kurzen Satz: „Die Automatisierung wird kein Ende nehmen.“ Seine Vision zeichnet sich auch in Zahlen ab: Wurden 2014 laut Fachkreis Online-Mediaagenturen (Foma) in Deutschland schon 16 Prozent des Werbevolumens automatisch gehandelt, soll die Zahl bis 2016 auf 29 Prozent steigen. Auf der anderen Seite des Atlantiks laufen bereits Tests, wie auch TV-Werbung in das System aufgenommen werden könnte, andere Gattungen wie Außen- oder Radiowerbung sollen folgen.

Ciro Scognamiglio ist ein Symptom dieses Wandels. Sein Unternehmen existiert bereits seit 2010, steuerte das Deutschlandgeschäft bislang jedoch von London aus. Weil der deutsche Markt an Bedeutung gewinnt, zog Scognamiglio Anfang des Jahres nach Hamburg und baute sich ein zusätzliches Team auf. Mit seinen vier Mitarbeitern sitzt der Trading-Chef seit Februar in einem dreistöckigen Ziegelbau am nördlichen Ende der Alster. Er ist sich der Zukunft seines Geschäftsmodells sicher: „Automatisierte Werbesysteme sind unausweichlich. Das System ist zu komplex geworden, um noch auf direkten Verkäufen bestehen zu können.“ Das Problem: Für viele bedeutet RTB vor allem Resterampe, steht für Kontrollverlust und drückt die Preise. Allen voran große Medienhäuser – sogenannte „Premium Publisher“ – sträuben sich noch gegen das neue System. Das mag auch daran liegen, dass die wenigsten verstehen, wie der automatisierte Auktionshandel funktioniert.

Lange Vorbereitungszeit, schnelles Geschäft

Der Zeigefinger immer auf der Maus, bereit für den entscheidenden Klick – so zumindest läuft das Geschäft nicht. Denn so blitzschnell der Prozess am Ende auch geschieht, so langwierig ist die Vorbereitung. Sogenannte Trader legen dabei Kampagnenprofile an, die bis ins kleinste Detail vorsehen, welche Arten von Websites für die Werbeplatzierung in Frage kommen. Das bedarf analytischen Vorlaufs, Scognamiglios Mitarbeiter arbeiten dafür eng mit ihren eigenen Analysten in Bangalore und dem jeweiligen Kunden zusammen. Sorgfältige Vorbereitung ist der Schlüssel zu einer gelungenen RTB-Kampagne, erklärt Stefanie Schulz, Traderin bei Media IQ Digital. „Durch einen einfachen Set-up- Fehler kann man schon mal mehrere Tausend Euro verschleudern.“

Die Analysten liefern daher eine Menge Erkenntnisse aus bisherigen Kampagnen, beispielsweise die Tatsache, dass Werbung für eine Airline überall dort gut funktioniert, wo es um Reisen geht – und das vor allem sonntags. Kunden wiederum können Umfeldwünsche angeben. Oft geht es darum, bestimmte Platzierungen zu vermeiden. In der Maske des Kampagnenprofils gibt es dafür eine Bandbreite allgemeiner Kategorien. Sie stehen unter dem Stichwort „Brand Safety“ und sollen den Schutz des Markenimages gewährleisten.

Nacktheit und Politik sind unerwünscht

Ciro Scormoglio (r.) und sein Team von Media IQ Digital Foto: Media IG Digital

Ciro Scormoglio (r.) und sein Team von Media IQ Digital Foto: Media IG Digital

Einige von ihnen genießen einen ständigen Platz auf der schwarzen Liste, Web-
sites etwa mit „Nudity“ – Nacktheit. Aber auch politische Nachrichten sind häufig eher unerwünschtes Terrain – zu heikel, erklärt Stefanie Schulz. Sie und ihre Kollegen können zu diesem Zweck auch einzelne Schlagwörter auf Websites identifizieren und diese aus dem Kreis potenzieller Umfelder verbannen. Während der German-Wings-Affäre beispielsweise wollte keine Airline mit einer Anzeige neben einem Beitrag über den Flugzeugabsturz stehen. Ein klares Ausschlusskriterium war daher: jegliche Website mit Schlüsselbegriffen wie Flugzeug, Pilot oder Absturz. Die aktuelle Nachrichtenlage müssen die Trader dabei immer im Auge haben, so Schulz. „Man muss schon sehr informiert sein. Darum kümmern sich aber auch unsere Analysten und das Unternehmen.“

Über die Parametermaske wird auch die jeweilige Zielgruppe bestimmt. Ein Großteil der relevanten Nutzer speist sich dabei aus Cookie-Erkenntnissen: Wer bereits auf der Website der Airline war, die nun werben möchte, wird mit höherer Wahrscheinlichkeit wiederkehren und einen Flug buchen als Neukunden. Aber auch die gilt es zunehmend zu erreichen. Hier kommen die Analysten erneut ins Spiel: Sie fassen Informationen zusammen, die bisherige Kampagnen mit vergleichbaren Zielgruppen geliefert haben.

Der letzte Schritt ist der Preis: An dieser Stelle legen Trader gemeinsam mit ihren Kunden fest, wie viel sie mindestens und höchstens für tausend Kontakte zahlen. Definiert werden diese unterschiedlich: Die „Cost per Click“-Ratio – ein Kontakt ist dann erfolgt, wenn der Nutzer auf den Banner klickt – weicht dabei zunehmend einer „Cost per Sales“-Relation: Hier zahlt der Kunde für eine tatsächliche Interaktion mit dem Nutzer, etwa die Teilnahme an einem Gewinnspiel, die Anmeldung für einen Newsletter oder der Kauf im Onlineshop.

Daten-Pingpong in der technischen Parallelwelt

Ist auch der letzte Parameter festgelegt, beginnt der eigentliche Prozess, dem das Relatime Bidding seinen Namen verdankt. Ab diesem Zeitpunkt gibt der Trader die Kontrolle ab. Die eingespeisten Informationen fließen in ein Netz aus Technologiefirmen, die miteinander Daten-Pingpong spielen. Die Information über einen Nutzer, der gerade eine Nachrichtenseite ansurft, wandert dabei auf die Seite der Publisher über Ad-Server und Angebotsnetzwerke (Supply Side Publisher) hinweg zur Seite der Werbekunden. Hier wird die Information von Kundennetzwerken (Demand Side Publisher) und Tradingfirmen verarbeitet. Passen der Nutzer und die Website auf das Kampagnenprofil, bietet das System ganz automatisch auf ihn. Das heißt: Es will den Werbeplatz kaufen, der dem Nutzer beim Öffnen der Seite ausgespielt wird, und steht dabei im Wettbewerb mit anderen Kunden. Der Höchstbietende gewinnt, die Bannerwerbung wird ausgespielt.

In der technischen Parallelwelt wird dieser Prozess millionenfach wiederholt, weder Kunde noch Nutzer bekommen etwas davon mit. RTB-Kampagnen laufen auf diese Weise mal eine Woche, mal mehrere Monate. Trader wie Schulz beobachten die Erfolgsquote ihrer Kampagne täglich und passen die Parameter, wenn notwendig, immer wieder an – um mehr Abverkauf zu erzielen, den Umsatz zu steigern.

Der Preis bestimmt das Image

So sorgfältig die Vorbereitung auch sein mag, in der deutschen Marketingwelt lastet RTB noch der Ruf einer Resterampe an – und färbt auf den gesamten automatisierten Werbehandel ab. Vor allem die Premium Publisher, große Medienhäuser, befürchten den Preisverfall ihres Inventars. Dem Modell des Realtime-Bidding werde man damit nicht gerecht, findet Björn Radde. Der Marketing- und E-Commerce-Leiter bei Okanda.com, einem Portal zum Anmieten von Meetingräumen, investiert rund ein Drittel seines Mediabudgets in den automatischen Handel. Für ihn bedeutet „Premium“ nicht gleich passend: „Beim Thema Realtime-Advertising geht es darum, Streuverluste zu vermeiden – warum sollte ich einen Premiumplatz für einen TKP von 50 Euro einkaufen, wenn ich meine Zielgruppe noch besser durch einen günstigen Restplatz erreiche?“

Hinzu kommt: Neben RTB bietet der automatisierte Handel – im Marketingsprech auch Programmatic Buying oder Realtime-Advertising genannt – längst mehrere Spielarten: In „Private Auctions“ stellen Publisher ihr Inventar nur ausgewählten Kunden zur Verfügung. Bei „Automated Guaranteed“ wiederum wird zwar elektronisch und in Echtzeit gehandelt, jedoch zu einem Festpreis und nicht per Auktion. Brian O’Kelley, Gründer und Chef von Appnexus, einem der weltweit größten Anbieter im automatisierten Werbemarkt, betont daher, dass sich jeder Markt anders entwickelt: „Die Technologie muss sich dem Markt anpassen, nicht andersherum. Realtime-Bidding ist vielleicht nicht der richtige Weg. Premium Deals passen viel besser in die Struktur des deutschen Marktes.“

Mit Big Data in die Blackbox luken

Das Image von Programmatic hat aber auch an anderen Stellen noch Entwicklungspotenzial. So galt das automatisierte System bislang vor allem als Retargeting- oder Performance-Werkzeug: Als Instrument, um bereits auf der jeweiligen Seite gewesene Nutzer zu Kunden zu machen. Gerade dieses Vorgehen aber treibe die Preise in die Höhe, sagt Scognamiglio: „Man kann ja nur Nutzer ansprechen, die schon einmal da waren, die Grundgesamtheit ist begrenzt. Wenn aber alle demselben Kontakt hinterherjagen, steigt automatisch der Preis.“

Die Zukunft von RTB liegt für den Trading-Chef daher in der Ansprache von neuen Nutzern: im Targeting. Da-raus wird ein Kampf um die beste Technologie. „Die Herausforderung liegt darin, den besten Algorithmus zu haben, der das Verhalten von Nutzern voraussagen kann, ohne sie bereits zu kennen.“

Wie aber wissen wir, ob ein unbekannter Nutzer, der eine bestimmte Website ansteuert, zur eigenen Zielgruppe passt? Die Antwort darauf liegt in zwei Worten: Big Data. Technologieanbieter wie Media IQ Digital, Appnexus oder Rocketfuel, sie alle lernen aus den Daten, die gelaufene Kampagnen hinterlassen. Die Informationen, die sie über einen unbekannten Nutzer bekommen, werden mit gelernten Erfahrungen verbunden. Statt die immer gleichen Rechner anzusprechen, wird Programmatic so zum Entdecker von potenziellen Kunden und Treiber von Branding-Kampagnen. Mit den gesammelten Daten bauen sich Akteure gleichzeitig ganze Ökosysteme auf – um der Herrschaft von Google und Co. zu entkommen, um eigene Regeln zu entwerfen, für ein neues Mediasystem.

Turn.com hat eine anschauliche Infografik zusammengestellt, die aufzeigt, wie schnell Realtime Advertising funktioniert. Die gesamte Grafik gibt es hier.

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