Experten-Interview: Programmatic Creation ist längst keine Vision mehr

Programmatic Creation ist schon lange umsetzbar, den Agenturen fehlt es nur an Mut, sich an neue technische Möglichkeiten zu wagen. Das sagt Ole John, Chief Operating Officer bei Impossible Software, ein Hamburger Anbieter für Software und Dienstleistungen rund um die dynamische Individualisierung von Videoinhalten in Echtzeit. Im Gespräch mit absatzwirtschaft erklärt er, wie er zu dieser Auffassung gelangte.
Ole John ist Chief Operating Officer bei Impossible Software

Wie würden Sie Programmatic Creation definieren?

Programmatic Creation oder Programmatic Creativity ist datengetriebene kreative Kommunikation. In welcher Form sie am Ende beim Konsumenten ankommt, hängt schlicht von der entsprechenden Kampagne ab. Es kann ein Video sein, es kann ein Digital-out-of-Home-Plakat sein wie das Billboard einer schwedischen Apotheke, das anfängt zu husten, sobald ein Raucher vorbeigeht. Letztlich würde ich alles, was in irgendeiner Form datengetrieben ist und einen entsprechend kreativen Ansatz hat, zu Programmatic Creativity zählen.

Die viel größere Frage ist: Wo fängt Kreativität an? Und: Warum fängt sie dort an? Aktuell findet „Kreativität“ bei den Mediaagenturen statt, denn die bekommen von ihren Kunden ein Briefing mit Aufträgen wie: „Wir möchten gerne unseren Werbespot in den Zielgruppen 14 bis 29 Jahren, weiblich, und so weiter ausspielen.“ Den Spot gibt es also schon vor dem Auftrag, er ist vorproduziert, was relativ sinnfrei ist, da man ja bereits im Vorhinein verschiedene Spots für die entsprechenden Zielgruppen bräuchte, um entsprechende Streuverluste zu minimieren. Und genau da wird die Entwicklung hingehen. Man wird in Zukunft nicht mehr „den einen“ Spot haben, sondern verschiedene Spotsequenzen, die man je nach Zielgruppe entsprechend zusammensetzen und dann ausspielen kann.

Aber ist das darin dargestellte Szenario nicht eher Vision als Realität?

Nein, das ist keine Vision mehr, sondern schon heute umsetzbar. Leider wissen die meisten Kunden davon nichts und denken, die modulare Zusammensetzung à la Baukasten sei eben genau das, was Sie sagten, „visionär“. Dabei könnte jedes Video individualisiert und abgestimmt auf Umgebung, Helligkeit, Wetter oder politische Situationen sein, man könnte theoretisch auf alles sofort reagieren.

Das heißt, bisher haben sich noch keine Werbungtreibenden oder Agenturen an ein modulares Video herangetraut?

Doch, aber nicht in der „höchsten Stufe des Möglichen“. Einige Kunden tasten sich bereits vorsichtig heran, bleiben aber bei kleineren „Personalisierungsgeschichten“ hängen. Damit meine ich Spots, in denen beispielsweise der Name oder der Ort der User eingeblendet werden. Solche Videos werden mit unserer Software schon sehr häufig und mit großem Erfolg erstellt. Das sind dann oft Grußvideos, die im Bereich von CRM-Maßnahmen anstatt Postkarten oder Callcenter-Anruf erstellt werden. Das funktioniert sehr gut.

An die Zusammensetzung von Werbespots nach Baukastenprinzip hat sich von unseren Kunden bisher nur einer so richtig herangewagt. Und das war Blackberry im Jahr 2013. Allerdings war es wirklich nur ein Spot, nicht eine ganze Kampagne. Das Besondere an ihrem Spot war, dass er sich „live“ zusammensetzte, und zwar in dem Moment, in dem der User online ging und auf den Facebook-Connect-Button geklickt hat.

Können Sie das genauer erklären?

Gerne. Razorfish wollte, dass beim Super Bowl ein Werbespot von Blackberry für den Q10 geschaltet wird, der auf die Webseite verweisen und deutlich machen sollte, dass es sich um einen individualisierten Spot handelt. Kam der Fernsehzuschauer also auf die Website, sollte er mit einem Klick seinen eigenen, vollkommen personalisierten Spot erhalten. Wir mussten uns dann fragen: Wie viele Zuschauer hat der Super Bowl in den USA? Antwort: 120 Millionen. Wie viele gehen davon online, wenn sie so einen Spot gesehen haben? Etwa ein Prozent, das sind 1,2 Millionen. Wie viele von diesen 1,2 Millionen drücken dann den Facebook-Button? Etwa 20 bis 25 Prozent, also etwa 250 000 bis 300 000 Leute, die innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne den Knopf drücken. Demnach mussten die Videos allesamt innerhalb desselben Zeitslots gleichzeitig erzeugt werden und sollten sich an Daten wie persönliches Profil, Sport-, oder Musikgeschmack orientieren und sogar Fotos von Freunden einblenden. Die benötigten Daten erhielten wir über die Facebook-Connect-Schnittstelle von Facebook. Am Ende haben wir tatsächlich 255 000 verschiedene Videos nahezu gleichzeitig gestreamt und jedem User auf der Landingpage „seinen eigenen“ Werbespot gezeigt. 

Das sind enorm viele Videos, wie funktioniert das technisch?

Es gibt bei solchen Spots viele verschiedene Einzelteile, die später – je nach Bedarf – in unterschiedlicher Reihenfolge, verschiedener Individualisierung oder entsprechender Auswahl zusammengesetzt werden. Meistens gibt es ein fixes Intro sowie ein entsprechendes Outro, die den Spot „umklammern“. Beide können aber durch Daten der User (Image, Name etc.) angepasst werden, um eine entsprechende Aufmerksamkeit zu generieren. Für die mittleren Teile gibt es dann diverse Sequenzen, die auch inhaltlich völlig unterschiedlich sein können und je nach Bedarf zusammengesetzt beziehungsweise auch personalisiert werden. So kann für jeden User ein persönlicher Spot generiert werden.

Für einen unserer ersten Kunden in diesem Bereich – einen Schuhanbieter – haben wir beispielsweise eine Schluss-Sequenz gezeigt, in der dem User Schuhe gezeigt wurden, die er sich zuvor im Shop angesehen hatte. Die Informationen stammten aus Retargeting-Daten des Schuhshops. Am Ende entstand auf diese Weise die Möglichkeit von über zwei Millionen verschiedenen Videos.

Würden Sie Retargeting etwa auch als Programmtic Creativity bezeichnen?

Letztlich ist Retargeting eine technische Lösung, Daten zu sammeln und kreativ zu verwenden, und damit als Teil von Programmtic Creativity zu definieren. Kreativagenturen würden natürlich sagen: „Nein, verschiedenen Schuhe zu zeigen, ist nicht kreativ.“ Ich würde sagen, es ist ein Anfang.

Insgesamt klingt der modulare Aufbau von Werbspots nach viel Mehraufwand …

Der Mehraufwand liegt vor allem in der Konzeption. Diese muss entsprechend erweitert werden, um am Ende eine programmatische Kreation zu gewährleisten. Es muss außerdem mehr Material hergestellt werden als bei einem klassischen, 30-sekündigen Spot. Nur so ist später garantiert, dass die passenden Sequenzen für die richtige Zielgruppe ausgewählt und zusammengebaut werden können. Dafür habe ich nach dem Mehraufwand aber um ein Vielfaches höhere Erfolgsmöglichkeiten als mit nur einem pauschalen Spot. Denn mit den vielen verschiedenen Spots erreiche ich viel engere Zielgruppen.

Wenn die modulare Zusammensetzung nun schon möglich ist, warum macht es dann so gut wie keiner? Gibt es Hürden?

Ja, die gibt es. Kundenseitig ist es zum einen die „Angst“, etwas Neues zu wagen, das bisher noch niemand getestet hat. Zum anderen sind es technische Hürden bei den Plattformen, die diese Videos ausspielen sollen. Es gibt zwar bereits Plattformen, über die vorproduzierte Video ausgespielt werden können. Aber um dort zum Beispiel Zigtausende Kombinationsmöglichkeiten hochzuladen, müssten wiederum weitere Dienstleister involviert werden, die entsprechend optimierte Schnittstellen für den Upload realisiert haben. Das ist bisher jedoch noch nicht der Fall.

Wie hoch ist die Nachfrage nach Programmatic Creation bei Impossible Software denn bereits? Aus welchen Branchen stammen die meisten Anfragen?

Da wir nicht als Kreativagentur nach außen auftreten, ist die Anfrage eher gering. Einige Agenturen fangen beim Thema Kampagnenplanung sehr zaghaft an, in die angesprochenen Richtungen zu denken. Hier ist aber noch sehr viel Aufklärungsarbeit notwendig.

Und zum Schluss ein Blick in die Zukunft: Wird Programmatic Creation schon in naher Zukunft gang und gäbe sein, und wenn ja: Was erwartet uns danach?

Ja, ich gehe fest davon aus, dass die Entwicklung ähnlich der beim Thema Programmatic Advertising ist und dass Programmatic Creation relativ schnell zu einem neuen Standard in den Agenturen wird.

Erstaunlich finde ich, dass bisher noch niemand die Fußball-WM ins Auge gefasst hat. Speziell hier denke ich, dass wir künftig keine fremdsprachige Bandenwerbung mehr sehen werden, beispielsweise brasilianische und chinesische Werbebanden während eines Spiels der brasilianischen oder chinesischen Nationalmannschaft. Stattdessen wird die Werbung eingebaut werden, die uns als „bekannter“ Zuschauer interessiert, wie Werbung von unserem Bäcker nebenan, der uns und allen Bewohnern in einem Umkreis von einem Kilometer die Pausenbrötchen zu einem besonders günstigen Preis anbietet. Ich könnte mir sehr gut vorstellen, dass wir so etwas in der Zukunft erleben werden.

Über Ole John

Ole John ist Chief Operating Officer bei Impossible Software, ein Hamburger Anbieter für Software und Dienstleistungen rund um die dynamische Individualisierung von Videoinhalten in Echtzeit. Seit 1994 ist er Geschäftsführender Gesellschafter der DDD Design GmbH Hamburg. Zuvor war er drei Jahre lang Producer bei RTL Nord Live dem Regionalfernsehen von RTL in Hamburg für die Bundesländer Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein tätig.