Ist die Foodwatch-Kritik an Nestlé-Bildungsangeboten in Grundschulen berechtigt?

Umgeht der Lebensmittelkonzern Nestlé den selbst auferlegten Verzicht auf Markenkommunikation in Grundschulen, wenn er Wettbewerbe zu gesunder Ernährung und Bildungsinitiativen an eben diesen Schulen unterstützt? „Ja“, sagt der Gründer und Geschäftsführer von Foodwatch, Thilo Bode, und wirft Nestlé genau dies in einem offenen Brief vor. „Nein“, entgegnet der Vorstandsvorsitzende der Nestlé Deutschland AG, Gerhard Berssenbrügge. Die Bildungsangebote würden von unabhängigen Partnern organisiert und seien frei von jeglicher Produkt- oder Markenwerbung. „Eine klare Beurteilung ist schwierig“, erklärt Prof. Dr. Hanna Schramm-Klein, Leiterin des Lehrstuhls für Marketing an der Universität Siegen. Die Unternehmen bewegten sich bei ihrem gesellschaftlichen Engagement auf einem schmalen Grat.

Von Astrid Schäckermann

Verbraucherfeindliche Praktiken der Lebensmittelindustrie zu entlarven, hat sich Foodwatch zum Ziel gesetzt. Am Mittwoch vergangener Woche veröffentlichte die gemeinnützige Organisation einen offenen Brief an Nestlé, der nicht nur die Bildungsprogramme kritisiert: „Entgegen seiner offiziellen Unternehmensziele vermarktet der größte Lebensmittelkonzern der Welt vor allem Süßigkeiten und überzuckerte Frühstücksflocken an Kinder unter zwölf Jahren und ist mit vielen verkappten Marketingprogrammen in Grundschulen präsent.“ Zu den Nestlé Unternehmensgrundsätzen gehört es, dass gegenüber Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren nur solche Produkte beworben werden dürfen, die für die Ernährung dieser Altersgruppe geeignet sind und eine positive Rolle in einer ausgewogenen Ernährung dieser Altersgruppe spielen können. Die Einschätzung von Foodwatch lautet: „Nestlé-Frühstücksflocken für Kinder sind kein ausgewogenes Frühstück, sondern Süßigkeiten.“ Dennoch werbe Nestlé für diese Produkte mit TV-Spots, die eindeutig Kinder unter zwölf Jahren ansprechen. Zudem sei Marketing mehr als nur klassische Werbung in Fernsehen oder Zeitungen – aber nur auf die klassische Werbung beziehe Nestlé die Selbstbeschränkung auch für klassische Süßigkeiten. „Verpackungsgestaltung und Promotion-Aktionen an den Verkaufsstellen etwa für Schöller-Eiscreme oder Smarties sprechen gezielt junge Kinder an“, heißt es in dem Brief weiter.

„Foodwatch verwechselt Süßigkeiten mit anderen Ernährungsprodukten für Kinder“, sagt Jutta Bednarz aus dem Team der Nestlé Unternehmenskommunikation, zuständig für die Themen Ernährung und Gesundheit. Sie verweist auf das Antwortschreiben von Gerhard Berssenbrügge, das ebenfalls am Mittwoch veröffentlicht wurde. Berssenbrügge thematisiert die Produktgruppe Frühstückscerealien ausführlich und betont: „Ihre Zuordnung unserer Frühstückscerealien in ‚süße, fette Snacks’ entbehrt jeder wissenschaftlichen Grundlage.“ Seit 2003 habe Nestlé in seinen Frühstückscerealien sukzessive Zucker durch Vollkorn ersetzt. Werbung darf dem Vorstandsvorsitzenden zufolge unterhaltsam und zielgruppengerecht sein – Essen müsse auch Spaß machen dürfen. Was Süßigkeiten angehe, liege die Entscheidung, wie häufig diese von Kindern verzehrt würden, bei den Erziehungsberechtigten und könne nicht generell auf die Unternehmen übertragen werden. Hanna Schramm-Klein forscht zum Thema „Kinderkaufkompetenz“ und schränkt diese Aussage ein: „Der Wunsch der Kinder ist häufig doch kaufentscheidend – Eltern lassen sich von ihren Kindern leiten.“ Dass Eltern eine große Verantwortung haben, ist jedoch unbestritten. Denn sehen Kinder im Alter bis etwa zehn Jahre Werbung, fragen sie nicht, wer sie da beeinflusst. Sie fragen statt dessen, ob das, was ihnen erzählt wird, wahr ist oder falsch.

Die Foodwatch-Kritik an den Bildungsangeboten von Nestlé in Grundschulen wundert die Wissenschaftlerin Schramm-Klein nicht. Klar ist für sie aber auch, dass Unternehmen solche gesellschaftlichen Tätigkeitsfelder suchen, die zu ihrem Kerngeschäft passen. Ob dadurch eine Beeinflussung der Kinder erreicht wird, hänge davon ab, wie intensiv die Marke kommuniziert wird. „Nestlé hält sich bewusst im Hintergrund“, betont Berssenbrügge, die Bildungsangebote seien strikt frei von produkt- oder markenbezogener Werbung. Im Jahr 2011 veranstaltete die Nestlé Deutschland AG beispielsweise zusammen mit der Stiftung Lesen den Wettbewerb „Unsere Klasse is(s)t klasse!“, an dem sich mehr als 3 000 Grundschul-Teams beteiligten. Für Aktionen rund um die Themen Ernährung und Bewegung sammelten die Schulklassen Punkte. Positiv gewertet wurden zum Beispiel gesunde Pausenbrote, der Besuch eines Wochenmarktes oder sportliche Impulse in der Klasse und in der Familie. „Dieser Trend, dass Unternehmen sich gesellschaftlich verantwortlich positionieren, wird von den Konsumenten hinterfragt“, sagt Hanna Schramm-Klein. Ihnen sei die Gewinnerzielungsabsicht von Unternehmen klar. Nestlé muss also davon ausgehen, dass Verbraucher unsicher sind, ob das Unternehmen tatsächlich will, dass sich gesunde Ernährung durchsetzt. Hier vollzieht es eine Gratwanderung, wie die Marketingprofessorin betont: „Kommuniziert das Unternehmen nicht, was es gesellschaftlich tut, erzielt es keine Imageeffekte. Kommuniziert es sein Engagement doch, erntet es vielfach Skepsis.“

Begrüßenswert ist es, dass sich Unternehmen Selbstbeschränkungen in Sachen Werbung, die an Kinder adressiert ist, auferlegen. Kritisches Beobachten und Prüfen durch Verbraucherschützer ist ebenfalls legitim. Denn öffentliche Diskussionen wie diese zwischen Foodwatch und Nestlé erhöhen die Transparenz. In diesem Fall zeigt sich auch eine Gemeinsamkeit: Den Beteiligten ist klar, dass Kinder im Marketingkontext nicht wie kleine Erwachsene behandelt werden dürfen. Ihr Vertrauen zu Marken wächst in dem Maße, wie sie mit ihnen in Berührung kommen.

www.foodwatch.de
www.nestle.de