Innovationsschub des Marketings nur ein Schauspiel?

Die Marketingdisziplin gleicht der Modeindustrie: Jedes Jahr ist alles neu; eine Innovation jagt die andere; jede Schöpfung ist einzigartig und jede neue Saison bringt wieder noch nie Dagewesenes. Wie im Falle der Modebranche riskiert die Marketingdisziplin dabei, dass das aufgeklärte Publikum die Darbietung als Schauspiel entlarvt
Jürgen Häusler

Warum geht das Marketing dieses Risiko ein, warum muss es sich scheinbar so entwickeln und darstellen? Mit ständigen (vermeintlich) grundlegenden Paradigmenwechseln und mit (vermeintlich) unüberbrückbaren Gegensätzen zwischen einzelnen Ansätzen, Konzepten oder Modellen? Wirkt das für Beobachter nicht eher pubertär? Ginge es nicht erwachsener, eine Stufe weniger aufgeregt und spektakulär, dafür reflektierter, differenzierter und damit robuster und vertrauenswürdiger?

Die Vermarktung des Marketings

Kann sich das Marketing nicht anders vermarkten? Sollte es sich nicht anders, weil Erfolg versprechender, vermarkten? Scheinbar nicht. Es scheint gefangen in seinen eigenen Denkschablonen, die nur dem absolut Neuen und Einzigartigen Erfolgschancen attestieren. Bezogen auf die Konsumwelt ist dieser Innovationsfetisch offensichtlich ein Irrglaube. Da wird die Ausnahme zur Regel erhoben und die Spitze des Eisbergs mit dem Eisberg verwechselt.

Auch die Biografie der Disziplin erzählt realistisch eine andere Entwicklungsgeschichte. Die (sehr seltenen) Paradigmenwechsel unterbrechen lediglich (sehr) lange Phasen der evolutionären Weiterentwicklung oder selbstversichernden Stabilisierung. Einzigartig sind oft höchstens die jeweiligen Bezeichnungen von einzelnen Konzepten und Modellen, während die unterschiedlichen Denkansätze einander meist mehr ähneln, als dass sie gegensätzlich wären. Wahrscheinlich ist die Ritualisierung des Neuen und Einzigartigen auch in der Selbstvermarktung dieser déformation professionelle der Marketingwelt geschuldet.

Der aktuelle Innovationsschub

Der in diesem Sinne aktuell angepriesene Innovationsschub des Marketings feiert die Eroberung des menschlichen Gehirns vor allem in den handlungsaktivierenden Regionen des Unbewussten. Individuelle Kaufentscheidungen werden damit für den Marketingexperten vollkommen transparent. Erfolg versprechende Kaufprozesse lassen sich dann entsprechend gestalten. Kunden lassen sich so zum Kauf nahezu blind führen. Angeregt werden nicht mehr nur sein Wollen, seine Wünsche oder Träume – so adressiert im „traditionellen“ Marketing der Werbung oder der Markenführung. Gesteuert werden neu auch sein Tun, sein Gang in den Laden oder an den Computer, sein Griff in das Regal oder sein Druck auf den Kaufknopf. Und all dies unter weitgehendem Ausschluss des Willens des Konsumenten. Der Erfolg des „neuen“ Marketings wäre dann total, seine Macht totalitär.

Die Vermarktung der Welt

Mit der um sich greifenden Vermarktung (von Gott und) der Welt werden längst nicht mehr nur Konsum- oder Investitionsgüter vermarket, sondern auch Kultur- oder Bildungsangebote wie Museen, Bibliotheken oder Universitäten, politische oder religiöse Einrichtungen wie Parteien oder Kirchen, staatliche Gebilde wie Städte oder Nationen. So wandelt sich das Marketing von einer Managementtechnik zu einer gesellschaftsprägenden Sozialtechnik. Seine befürchtete Machtfülle müsste den Ruf nach normativer Rechtfertigung und politischer Kontrolle nach sich ziehen. Breiter sozialer Widerstand wäre zu erwarten. Und tatsächlich treten verschiedene soziale Bewegungen im Nachgang zu „No Logo“ auch mit diesem Programm an.

Die Hoffnungen des Widerstands gegen die angefeindete zunehmende Machtfülle des Marketings könnten sich allerdings auch darauf stützen, dass sich (auch) der aktuelle Innovationsschub des Marketings möglicherweise als überwiegend substanzloses Schauspiel entlarven lässt. Begründen ließen sich diese Hoffnungen beispielsweise mit der meist doch sehr oberflächlichen Rezeption der Erkenntnisse der Neurowissenschaften durch die Marketingwelt. Die oft holzschnittartigen Befunde, die Marketingexperten vielfach von ihren disziplinübergreifenden Kurzausflügen mitbringen, legitimieren den beruhigenden Schluss, dass die Erfolgsaussichten auch des neuen Marketings noch längst nicht total gesichert sind.

Berechtigt scheinen Hoffnungen, wonach der totalitäre Anspruch auch des „neuen“ Marketings noch immer am freien Willen der widerspenstigen Konsumenten scheitern könnte. Das Marketing würde dann in der von ihm selbst aufgestellten Innovationsfalle sitzen. Und ihm bliebe lediglich der Genuss des sprichwörtlichen Stückchens Käse.

Über den Autor: Jürgen Häusler war Chairman von Interbrand Central and Eastern Europe. Der Markenexperte betreute zahlreiche renommierte Unternehmen in der strategischen Markenführung. Er ist Honorarprofessor für Strategische Unternehmenskommunikation an der Universität Leipzig.