Forscher Beck über Unterschiede menschlicher und künstlicher Intelligenz: „Clevere Gehirne vergessen besonders gut“

Dr. Henning Beck, Neurowissenschaftler und Hirnforscher, verteidigt die Stärken des Menschen gegenüber der Künstlichen Intelligenz (KI). „Es gibt keine einzige Maschine, die kreativ ist“, sagt er im Gespräch mit der absatzwirtschaft. Außerdem verrät er, wieso Marketing-Kampagnen von menschlicher Intelligenz profitieren.
Dr. Henning Beck

Alle Welt redet über KI – Sie preisen die Vorzüge des menschlichen Gehirns. Weshalb?
Weil es Dinge gibt, die ich eben nicht so einfach durch intelligente Systeme abbilden oder gar ersetzen kann. In einem unsicheren, nicht quantifizierbaren Umfeld – wenn es etwa darum geht, Neues zu wagen oder mit kleinen Datenmengen klar zu kommen – sind Menschen besonders gut. Im Unternehmensalltag, besonders im Management, sind die meisten Situationen genau so geprägt: Ich habe nicht viele Daten, sondern nur ein oder zwei Beispiele. Ich arbeite mit Menschen zusammen, von denen ich nicht weiß, wie sie sich verhalten werden. Und ich muss Sachen ausprobieren.

Sind Menschen innovativer als Maschinen?
Definitiv! Es gibt keine einzige Maschine, die kreativ ist. Das würde bedeuten, dass sie mit einer Regel brechen kann, und das mit einem bestimmten Ziel. Das machen Maschinen nicht. Ich kann ihnen vorschreiben, dass sie Regeln brechen sollen, aber dann würden sie ja immer noch meine Anweisung beachten.

Und was ist mit den Facebook-Bots Bob und Alice, die eine eigene Sprache erfanden?
Na ja, es war nicht etwa so, dass sie sich auf einer höheren linguistischen Ebene ausgedrückt hätten. Sie wurden darauf trainiert, in Verhandlungen erfolgreich ihre Position zu markieren, und stellten im Laufe der Zeit fest, dass, wenn man ein Wort wiederholt, es beim Gegenüber als besonders wichtig ankommt. Angenommen, ich möchte Ihnen ein Brot verkaufen, dann sage ich „Brot“ und betone nochmals: Brot! Die Bots haben daraus ein System gemacht und nur noch die Kernbegriffe hin- und hergeschossen. Im Prinzip haben sich die Maschinen aufgehängt.

Sie bezeichnen es als Vorteil, dass der kreative Mensch Regeln bricht. Solche Kollegen sind in Unternehmen allerdings nicht unbedingt beliebt.
In der Tat. Alle Welt redet davon, dass man innovative Menschen braucht. Dabei wird vergessen, dass Querdenker unbequem sind – Leute, die anecken. Sie stellen Hierarchien in Frage, kritisieren Abläufe, fordern ihre Chefs heraus. Das ist anstrengend. Aber manchmal notwendig. Sonst bekommt man ein Herdenverhalten, das verhindert, dass ein Unternehmen flexibel und anpassungsfähig bleibt. Ja, es kann nicht immer alles hinterfragt werden, man muss auch zu Ergebnissen kommen und abliefern. Aber es muss Phasen geben, in denen Querdenken erlaubt ist und positiv ineffizientes Arbeiten, mit Pausen und Nachdenken. Das bringt auf lange Sicht einen Vorteil.

Selbst in Entwicklungsabteilungen geht es aber heute selten um Geistesblitze. Unternehmen planen Innovation vielmehr zielgerichtet mit Vorgaben, Marktanalysen und Budgets. Schlägt also auch dort die Stunde der KI, weil es um die Auswertung großer Datenmengen geht?
In vielen Bereichen, in denen geforscht wird, ist eine gewisse Stromlinienförmigkeit erforderlich, wenn man konkret etwas entwickeln will. Und KI wird auch dort einen besseren Zugriff auf Daten und Abläufe erlauben. Gleichwohl zeigt ein Blick in die Historie: Die bahnbrechendsten Ideen und Produkte kamen oft von Leuten, die ein Problem hatten oder sich über etwas aufgeregt haben. Die das Ergebnis gar nicht so im Fokus hatten, sondern mehr das Problem, das sie lösen wollten. Dafür muss es Raum geben.

Einige Innovationen sind sogar durch Fehler entstanden: Penicillin wurde entdeckt, weil im Labor ein Pilz in eine Bakterienkultur geraten war; ein vergessener Schokoriegel führte zur Erfindung der Mikrowelle. Trotzdem gelten Fehlleistungen und mangelnde Erinnerung gemeinhin nicht als wünschenswert oder gar überlegen.
Natürlich, es ist von Nachteil, wenn ich in einem konkreten Moment etwas vergesse. Aber bedenken Sie die Alternative. Edward Snowden hat mal gesagt: When we collect everything, we understand nothing. Eine Maschine behält alles, aber sie weiß nicht, was wichtig ist und was nicht. Es geht also darum zu priorisieren, und ein Gehirn kann das. Clevere Gehirne vergessen sogar besonders gut! Nervig ist es nur, wenn man von Information so überströmt wird, dass man auch wichtige Dinge vergisst. Übrigens: Genau die Hirnregionen, die daran beteiligt sind, die Vergangenheit zu verfremden, planen auch die Zukunft, fragen „was wäre wenn“, überlegen sich Alternativen und stellen Hypothesen auf. Daran wird sehr schön die Doppelgesichtigkeit unseres Denkens deutlich.

Ist ein ausschließlich durch KI gesteuertes Marketing vorstellbar – Claims, Spots, Kampagnen?
Kann man machen. Es würde aber sehr schwer, sich vom Wettbewerber abzugrenzen. Letztlich ist alles, was ich standardisiert und effizient einkaufen kann, eine Software. Die besten Kampagnen entstehen aber, indem sich Menschen Gedanken machen, ausprobieren und einen besonderen Twist finden. Dabei kann eine KI helfen. Ich kann einem Algorithmus befehlen: Spuck mir 20 Slogans aus. Aber sie zu testen, zu bewerten, zu ändern, einen anderen Touch reinzubringen und manchmal etwas Kontraintuitives zu entwickeln, an das vorher keiner gedacht hat – das ist doch häufig das, was im Marketing einen USP ausmacht. Der entsteht nicht dadurch, dass ich einen Trend fortschreibe, sondern indem ich frage: Was ist der Trendbruch? Was haben wir, was kein anderer hat? Wenn alle nach links gehen, gehe ich nach rechts. Das ist der Regelbruch, den die Maschine nicht kann.

Wenn Sie das Gehirn verbessern könnten: Was würden Sie vorschlagen?
Ich bin eigentlich sehr zufrieden mit dem Gehirn, auch mit seiner Fehlerhaftigkeit. Mein letztes Buch, „Irren ist nützlich“, handelt ja davon. Das einzige, was mich an meinem eigenen Gehirn nervt: Ich brauch‘ relativ viel Schlaf (lacht). Das ist allerdings genetisch.

(mat) führte ihr erstes Interview für die absatzwirtschaft 2008 in New York. Heute lebt die freie Journalistin in Kaiserslautern. Sie hat die Kölner Journalistenschule besucht und Volkswirtschaft studiert. Mag gute Architektur und guten Wein. Denkt gern an New York zurück.