Handel im Jahr 2015: Wenn die Rolltreppe nicht mehr sexy macht

Der stationäre Handel ist derzeit gebeutelt, gleichzeitig haben sich noch nie so viele Chancen für den etablierten Händler geboten. Trendbeobachter Mathias Haas blickt nach vorne: Wie viel ist mit dem stationären Handel in Zukunft noch los?
Mathias Haas

Der Handel hat Auftrieb. Der Handel könnte eigentlich himmelhoch abheben. Denn global gesehen geht es dem Kunden gut bis sehr gut. Doch wie viel wird mit dem stationären Handel in Zukunft wirklich noch los sein? Weltweit leben wir im „demografischen Optimum“: Nie wieder werden so viele Menschen berufstätig sein.

Im Saldo aus Jung und Alt musste die aktive Generation noch nie so wenige Alte durchfüttern wie heute. Die Menschen leben lange und haben dadurch auch noch einen „Bonustrack“. In Deutschland ist der Arbeitsmarkt robust, und auch die Binnennachfrage ist sensationell. Es gibt keine Zinsen fürs Geld – also „raus damit“! Doch diese Budgets gehen nicht vollautomatisch in die Boutique um die Ecke oder an den Metzger auf der Hauptstraße. Auch diese klassischen Geschäftsmodelle werden – ganz überraschend – von den neuen Verhaltensweisen auf den Kopf gestellt. Es heißt „anschnallen und neu durchstarten“. „The Global Retail Empire“ sagen die Analysten von OC&C Strategy Consultants.

Drei Zahlen dazu: Laut Ebay sind heute schon 20 Prozent des Handelsvolumens auf den eigenen Marktplätzen grenzüberschreitend generiert. Laut eMarketer entfallen bis 2018 etwa 20 Prozent der Onlineumsätze auf Importwaren. Laut Fevad, der französischen Dachorganisation für E-Commerce, lag der Anteil der importierten Einkäufe in den Wintermonaten des Jahres 2014 bei 28 Prozent.

Wer heute den Rewe-Lieferservice oder das Blumenabo bei Bloomy Days ausprobiert, spürt die bezaubernde Lieferkette an der eigenen Bequemlichkeit. Denn wahrhaftig gibt es nicht nur das Kaufmotiv „Preis“. Schon am 18. März 2013 hat Alibaba den Test bestanden. „Der Trendbeobachter“ hatte damals die Liefernummer 1106956536 und „payment has been accepted“. Als der Direktimport aus China eintraf, war die Spannung so hoch wie bei einem illegalen Tiefflug. Das Erlebnis und die Prozesse waren wirklich nahe an berühmten Flugmanövern. Genau dieses Gefühl ist auch Teil des Kauferlebnisses. Nur ein Teil der Einkäufe folgt dem Bedarf oder gar der Logik. Handel ist heute global, denn die Kundschaft vertraut offensichtlich einem feinen Onlineshop mehr als der Verkäuferin am Platze. Dazu ein US-Beispiel und eines aus Mitteldeutschland:

Casper: Der US-Markt für Matratzen liegt bei etwa 14 Milliarden US-Dollar im Jahr. Das kleine Schnellboot Casper bringt das „bed in a box“ nach Hause. Online bestellt in „the size of a washing machine“, aufgeklappt, und los geht’s mit dem fabelhaften Schlaf. Die Argumente?

Der Kunde war bisher überfordert und hatte Angst zu entscheiden und er vermisste die Betreuungsqualität sowie das „slick marketing“. Der Zwischenhändler wurde rausgenommen und die ersten zehn Monate sorgten für einen Erlös von 20 Millionen US-Dollar. Lässt sich dieses Modell weltweit skalieren? Aber hallo! Muss man Matratzen Probeliegen? Vielleicht. Zu Hause. Hilft es, wenn die Empfänger „Ganz glücklich“ posten? Sie tun es.

MyVale: Eine halbe Autostunde südlich von Kassel agiert Schott Orthopädie. Hier werden Sandalen nach individuellem Fußabdruck des Kunden produziert. Und wieder ist der Standort völlig irrelevant. Ende letzten Jahres kam die Trittschaumbox per DHL, und mit dem Fußabdruck ging diese postwendend zurück. Per 3-D Scan digitalisiert und von Orthopädie-Schuhmachermeistern modelliert, kamen bald die einzigartigsten Flip-Flops der Welt. Der Preis? Wieder ist der eben nicht das Kaufmotiv. Was für eine Chance – was für eine Bedrohung! Auch der Handel darf sich neu erfinden. Und er tut es. Durchschnitt gibt es nicht mehr. Anbieter brauchen ein klares Profil, und damit können sie auch San Diego, Moskau und Rostock bedienen.

Nach wie vor gibt es dennoch gute Gründe für stationären Handel. Nicht ohne Grund eröffnet Google in Hamburg einen „Shop-in-Shop“, Cyberport Läden an mehreren deutschen Standorten und Zalando ein Outlet in Berlin. Bei Letzterem kann kein Kunde durchs Drehkreuz, ohne seine Daten abzugeben. Apple hatte 2014 ganze 437 eigene Shops. Im Jahr 2005 waren es noch 116.

Diese „Tempel“ sind Beziehungsbeschleuniger. Sie bieten Orientierung – besser als jeder Konfigurator. Letzterer ist heute ein nennenswerter Wettbewerber. Der Verkäufer muss besser sein als der „Heinz von Heiden Traumhaus Konfigurator“ oder muss ihn zumindest intelligent einsetzen. Dies macht zum Beispiel Pro Sky, der europäische Marktführer für Flugprogramme. Hier kann eine Falcon oder eine reizende Cessna gebucht werden. Da hier die Anzahl der Anfragen wirklich hoch, die Preiskalkulation aber überschaubar ist, bieten die Kölner das „Private Jet Pricing-Tool“ an. Der Kunde kann eine Preisindikation selbst produzieren und vom Vertriebsteam hinterher die Verfügbarkeit prüfen lassen. Und wieder gilt: B-to-B und B-to-C könnten auch in diesem Feld voneinander lernen.

1. Ist E-Commerce der Tod des stationären Handels?

Menschen lieben nach wie vor sofortige Verfügbarkeit und direkte Haptik, und sie wollen auch verführt werden. Doch genau diese früheren Alleinstellungsmerkmale machen den stationären Handel heute einsam, denn Onliner können dies genauso und besser. Fakt ist, dass sich der Kunde im stationären Handel häufig entscheiden kann zwischen Langeweile und sortierter Langeweile. Eine Boutique ist erst dann ein Erlebnis, wenn sich Marken und Sortiment ergänzen, wenn die Zusammenstellung die eigene Grazie glänzen lässt, wenn hier die Kragenweite des Kunden bekannt ist, außerdem der Name der Katze und ob der Tee mit Süßstoff oder mit Rohrzucker getrunken wird. Diese Haltung des „Kümmerns“ nennt man heute „Kuratieren“. „Are you still buying or already curating?“, fragt das Mode-Fachmagazin „Sportswear International“ die Profieinkäufer.

So gesehen ist E-Commerce ein Segen für den Kunden, denn das Gesamtniveau steigt wieder. Im Warenhaus Breuninger wird in gepflegten Sitzgelegenheiten exzellenter Kaffee serviert. Bei Esprit wird mit der App „Scan&Shop“ auf „mehr Größen, mehr Styles und mehr Farben“ verwiesen. In der Audicity in Berlin oder London werden alle Modelle mit allen denk- und machbaren Kombinationen auf der interaktiven Videowand visualisiert. Lassen sich so Autos verkaufen? Auf Dauer ganz bestimmt, denn Menschen wachsen heute „voll digital“ auf, ob wir es lieben oder nicht. Ein neuer Audi fährt eben wie ein neuer Audi. Die Marke schafft das Vertrauen – zumindest beim Durchschnittskunden. Ja, die Probefahrt ist möglich, aber sie ist eben nicht mehr nötig, weil die Bequemlichkeit wichtiger ist. Deshalb dann vielleicht auch die Lage am Kurfürstendamm und 74-75 Piccadilly – für die Freaks?

Das Fahrtraining eines Automobilherstellers ist die moderne „Butterfahrt“, wie Porsche beweist. Etwa 30 000 Kunden pro Jahr begeben sich im neu eröffneten Headquarter von „Porsche Cars North America“ auf die Rennstrecke – und unterschreiben den Kaufvertrag bei einem Puls von 213? Wer hätte vor zwei Jahren gedacht, dass „Prime now“ von Amazon auch in Berlin innerhalb einer Stunde liefern kann, dass im Mailänder Pop-up-Store #IKEAtemporary Prototypen gezeigt werden und dass heute schon Lebensmittelmärkte existieren, die zu 100 Prozent digitales Pricing anbieten? Einen solchen haben Coop und das Massachusetts Institute of Technology (MIT) erdacht – im Jahr 2015 für das Jahr 2050. Hier werden keine Preisschilder mehr am Produkt angebracht, sondern zu 100 Prozent digitalisiert. Welch visueller Genuss für den Besucher!

Schon heute machbar sind Hintergrundinformationen zum CO²-Fußabdruck oder zum Hersteller – und das Ganze sogar im Videoformat. Und Roboter: heute noch Show für die Verpackung von Äpfeln und trotzdem schon denkbar für den vollautomatisierten Transport vom Lager zum Regal. Zu Recht ist der Vorstandsvorsitzende Lothar Schäfer stolz darauf, dass bei Adler-Modemärkten ein Roboter nachts die Inventur macht. Wie diese technische Lösung das Kundenerlebnis verbessert? Sie ist ein Beitrag dazu, dass auch dort die Kundschaft wieder richtige Beratung genießt.

Der stationäre Handel geht seinen Weg – in Richtung Kunde. Auf diesem Trampelpfad gibt es nicht nur Gewinner, oft ist es schmerzhaft, es gibt jede Menge Leerstand und gleichzeitig auch eine klare Richtung: „mixed reality living“. Wie bei Fliike, dem Facebook Fan-Counter, der tatsächlich beim Baumarkt auf dem Tresen stehen kann und wo der Kunde für die gute Beratung noch kurz mobil seine Anerkennung ausdrückt. Ein „Like“ für Obi, Hornbach oder den neuen Screwfix. Denn mit dem digitalen Concierge, seinem Smartphone, hat er ja gerade den Preis beim Wettbewerb verglichen und den Verkäufer direkt runtergehandelt. Natürlich: Der Preis wird ein Faktor bleiben. Doch warum sollte der Kunde eine Stunde warten, wenn er den fehlenden Kleister hier direkt mitnehmen kann?

2. E-Commerce ist häufig negativ belegt. Gibt es auch positive Seiten des digitalen Handels?

Die World Trade Organisation hat eine Publikation mit dem Titel „E-commerce in developing countries, opportunities and challenges for small and medium-sized enterprises“ veröffentlicht. Sie zeigt auf, dass vermeintlich schwache Anbieter aus Malawi, Senegal und Thailand echte Chancen haben. So gibt es heute schon Dörfer im Reich der Mitte, in denen 2 000 Menschen für über zehn Millionen Euro Umsatz sorgen – natürlich über E-Commerce-Plattformen. Und die Regierung meint es ernst: Sieben von zehn dieser Dörfer sollen bis 2020 mit Glasfaser-Infrastruktur ausgestattet werden. Genau hier liegt auch unsere denkbare Chance. Auch unsere Dörfer könnten – zum Beispiel im Osten – Quelle für derartigen Erfolg sein. Die Mechanik ist klar und das teure Ladenlokal nicht nötig. Doch dies gilt natürlich auch für Frankfurt oder Kelkheim-Fischbach. Hier betreibt Lars Jungermann ein Feinkostgeschäft mit der Möglichkeit, mitten im Laden Feste zu feiern oder im Hinterhaus zu frühstücken. Die Räumlichkeiten haben auch einen Keller, Standort für den elektronischen Handel, das zweite oder dritte Standbein für ein kleines und agiles Team.

3. Was muss der stationäre Handel tun, um zukunftsfähig zu bleiben?

Der stationäre Handel muss ein klares Profil haben, ohne ein solches kommt jedes Geschäftsmodell unter die Räder. Ein Kunde, der das stationäre Geschäft „gegoogelt“ hat, ist ein Vollprofiund anspruchsvoll dazu. Der Handel muss seine Stärken folglich ausleben dürfen: Erlebnis, Haptik, Beziehung! Auffällig ist zum Beispiel, dass erstklassige Ladenkonzepte oft hochwertige Gastronomie inkludieren.

Der Replay-Store „The Stage“ mit einem richtigen Restaurant am Abend, die Vollsortimenter im Bikini-Haus oder The Store im Soho-House – all das sind Beispiele für tolle Speisen und für eine Architektur, die es zulässt, dass der Kunde von einem Laden direkt in den nächsten gelangen kann. Es gibt keine Türen, sondern identische Öffnungszeiten. The Store im Erdgeschoss des edlen „Private Members‘ Club and Hotel Soho-House“ fördert es sogar, dass mitten im „Mini-Kaufhaus“ Vollbärtige rasiert und Nägel poliert werden. Dort wird stundenlang gelebt und es werden Geschäfte angebahnt.

Diese Beispiele funktionieren nachweislich. Marketingleiter sollten sich überlegen, sie live kennenzulernen und genau zu studieren.

Vielleicht könnte darüber hinaus der Produktmanager im Service hospitieren – einfach zum systematischen Lernen. Oder es werden die besten Grafik-Azubis mit Gutscheinen für die Beautyabteilung inklusive Ingwer-Tee belohnt, wobei sie ganz nebenbei neue Perspektiven kennenlernen. Auch der Media-Planer könnte beobachten, wie heutzutage wirklich eingekauft wird.

Handel darf stationär sein – doch er muss ein stimmiges Bild abgeben. Orientierung sollte auf Emotionen treffen, denn reinen Bedarfskauf bietet der traditionelle Onlinehandel ohnehin besser an.

4. Wo liegen die Grenzen des digitalen Handels? Welche Kaufprozesse lassen sich digital einfach nicht abbilden? Welche vielleicht überraschend doch?

Bei der Schließung eines klassischen Kaufhauses gab es einen Dialog, in dem die Verkäuferin meinte, dass der Kunde das Bettlaken vor dem Kauf doch anfassen müsse. Dies hört sich an wie der Matratzenverkäufer, der jetzt auf das Angebot von Casper trifft. Die Antwort auf obige Frage liegt auch in der Hand der Präsenz-Vertreter. Wie gut sind deren Verführungen? Die Verehrung des Kunden hat auch etwas von „dienen“ und „verkaufen wollen“. Wie verbindlich und glaubhaft sind die Aussagen des Experten – des Kaufmanns? Wirklich verkaufen zu wollen ist ein deutsches Problem, das jetzt auf globalen Wettbewerb trifft.

Es gibt eine Tendenz, dass Menschen selbst Robotern mehr vertrauen als Menschen – diese Komponente gilt es zu beobachten. Unternehmen wie Nestlé verkaufen heute schon Kaffee durch diese Helferlein. Und auch Versuche zeigen, dass humanoide Roboter extrem schnell Vertrauen aufbauen können.

Der Gradmesser für diese Entwicklungen ist Deutschland eher nicht – wegen der demografischen Struktur. Umso gefährlicher wäre es, wenn hiesige Händler annehmen würden, dass Großbritannien, Estland und Korea genauso ticken wie Düsseldorf, Kempten und Dessau.

Da genau diese Auslandsmärkte von vielen deutschen Unternehmen bedient werden, ist die eigene Kalibrierung national wie international umso wichtiger – im eigenen Segment wie in den Nachbarzonen. Aufgrund der vielfältigen Anforderungen werden zahlreiche Händler den Marktplatz schlicht verlassen, wodurch Städte und vor allem Dörfer leiden und Kunden weit fahren müssen. Andere Anbieter dagegen haben die neuen Marktgesetze verstanden: Der Kunde ist der Point of Sale – egal, wo er ist. Er ist durchoptimiert, liebt sich selbst mehr denn je und seine Zeit ist ihm heilig. Online ist offline und offline ist online. Im Grunde ist die Zukunft gar nicht so kompliziert.

Deshalb der Appell: Nehmen Sie sich Zeit zum Denken!

Über den Autor: Mathias Haas ist der Trendbeobachter und kein klassischer Trend- oder Zukunftsforscher. Er und sein Team machen Unternehmen, Verbände und öffentliche Träger zukunftsfit. Er agiert mit Infotainment, transferorientierter Beratung und gesundem Menschenverstand. Haas ist auch Gründer der Play Serious Academy.