Gefährliches Ungleichgewicht: Warum Marke und Kommunikation nicht ihr volles Potenzial ausschöpfen

Das Thema Marke kommt heute in vielen Unternehmen zu kurz. Die gelernten Erfolgsmuster nach der Marken und Maßnahmen strategisch gesteuert und geplant werden müssen, stoßen in unserer schnelllebigen Welt immer öfter auf die Logik der Kurzfristigkeit. Dies kann insbesondere im Hinblick auf Mediaplanung und Kommunikation zu unerwünschten Effekten führen.
Marken müssen "always on" sein und der Kommunikationsalltag hat sich auch stark verändert. Erleben wir eine Krise?
  • Von Gastautor Lutz Laermanns, Mitglied des Management Boards und Direktor von Crossmedia Redbox

Der Kommunikationsalltag hat sich in den letzten Jahren stark verändert: Die Taktung von Werbekampagnen wird immer höher. Planungshorizonte werden immer weiter verkürzt. Marken müssen ‚always on‘ sein. Marketing-Technologie verspricht Kampagnen-Prozesse weitestgehend zu automatisieren. CRM-Experten rücken in Schlüsselpositionen des Marketings vor und rütteln an traditionellen Zielgruppen- und Targeting-Modellen. Kürzere Innovations- und Angebotszyklen verlangen eine immer flexiblere Herangehensweise.

Systemfehler führt zu Kurzsichtigkeit

In diesem Umfeld fällt es zunehmend schwer, Marken und Kommunikation auf Kurs zu halten. Selbst wenn alle Beteiligten in bester Absicht handeln, können Kommunikationsergebnisse letztendlich die Zielsetzung verfehlen oder sie im schlechtesten Fall sogar ins Gegenteil verkehren. So kann aus einer digitalen Reichweiten- eine Online-Abverkaufs-Kampagne werden. Oder Produktkommunikation überlagert jeglichen Markengedanken. Am Jahresende zeigt sich diese Fehlsteuerung dann in der schlechten Entwicklung von Markenwerten oder noch schlimmer in gesunkenen Käuferreichweiten oder gesunkener Profitabilität. Das Ergebnis bleibt aber in jedem Fall gleich – der Markengedanke ist auf dem Weg zum Endverbraucher verwässert worden. Aber warum passiert das? Wir beleuchten die Ursachen aus fünf unterschiedlichen Perspektiven:

1. Organisation

In vielen Unternehmen und Agenturen arbeiten heute Spezialisten aus unterschiedlichen Bereichen nebeneinander: Community Manager, Email-Marketer, Kooperations-Manager oder Performance-Experten. Die wachsende Spezialisierung führt zu immer differenzierteren Sichtweisen und eigenen Interpretationen davon, was Erfolg ausmacht. Oftmals reicht schon das „Stille Post“-Prinzip, um am Ende die Aufgabenstellung zu verfehlen. Hinzu kommt, dass Berufseinsteiger nicht mehr generalistisch ausgebildet werden, viele sind heute z.B. von der Digitalen Markenführung geprägt, und rücken so allein aufgrund ihrer Sozialisierung die digitale Perspektive in den Vordergrund. Das alleine ist zwar nicht schlimm, führt aber zu Einseitigkeit. Mitarbeiter mit fachbereichsübergreifender Erfahrung werden also zugleich immer seltener und wichtiger, denn Marke macht niemand nebenbei.

2. Strategie

Die Art wie Marken heute gemacht werden und erfolgreich bleiben hat sich verändert. TV-Werbung muss nicht mehr im Zentrum einer Mediastrategie stehen, Social Media kann Geburtshelfer neuer Marken sein und Streuverluste sind kein notwendiges Übel mehr um Reichweite zu generieren. Kaufentscheidungsprozesse sind kürzer und emotionaler als vermutet. Eigenmarken können Premium sein, Händler sind als Marken nicht mehr wegzudenken. Markenstrategie im traditionellen Sinne kann in diesem Umfeld schnell zum Anhängsel einer hochspezialisierten Marketingabteilung werden, die ihren Wert im operativen Alltag nicht erkennt. Handlungsleitend bleibt die Strategie, wenn sie inhaltlich aktuell ist und eine Prozess-Perspektive berücksichtigt, die Media sowie Botschaft gleichermaßen einordnet. Der Marketing-Vordenker Al Ries rät daher dazu, die produktlastigen 4Ps des Marketings (Product – Price – Promotion – Place) durch die prozessorientierten 4 Ms (Merchandise – Market – Media – Message) zu ersetzen.

3. Analytik

Die Sehnsucht nach Sicherheit in Form von kurzfristig messbarem Kommunikationserfolg ist ungebrochen. Die technischen Messmöglichkeiten haben sich rasant entwickelt und erzeugen immer neue Datenpunkte. Kürzere Reportingzyklen führen dazu, dass Vergleichbarkeit und Aussagekraft in ‚schnell-drehenden‘ Erfolgsindikatoren gesucht werden. Klassische Markentrackings, die Einstellungsveränderungen über die Zeit nachweisen können, treten dann nach und nach in den Hintergrund. Im Extremfall findet Steuerung von Kommunikation nur noch auf Basis des kleinsten messbaren Nenners, maximal auf Kampagnenebene statt. ‚Marketing-Cloud‘-Anbieter wie Oracle oder IBM versprechen Unternehmen zwar neue Möglichkeiten der ganzheitlichen Steuerung und Analyse, erst einmal verlangen diese Technologien aber nach operativer Ressource – das analytische Potenzial wird heute daher erst in wenigen Fällen genutzt.

4. Psychologie

Die Digitalisierung des Marketings bringt ständig neue Optionen und Trends mit sich, mit denen sich Marketer und Agenturen auseinandersetzen müssen. Diese Dynamik lenkt unsere Aufmerksamkeit nach dem Motto „Neu ist immer besser“ und führt dazu, dass sich unsere Prioritäten weg von den grundsätzlichen Fragen der Markenstrategie und der Mediaplanung bewegen. Performance-Attributions-Modell oder strategisches Marketing-Mix-Modeling? Micro-Moments-Planning oder Käufer-Segmentierung? So gewinnt z.B. die algorithmenbasierte Analyse (zurecht) an Bedeutung, Aufmerksamkeit bekommt sie aber überproportional und zu Lasten der klassischen Forschung. Durch eine einseitige Betrachtung verengen wir so unsere Perspektive hin zu kurzfristiger Response statt langfristiger Wirkung.

5. Agenturbeziehungen

Unternehmen beschäftigen immer mehr Spezialisten statt Generalisten, alleine im Bereich Mediaplanung können dies z.B. Search-, Direktmarketing- und Außenwerbeagenturen sein, um nur einige zu nennen. Oftmals gibt es sogar mehrere Agenturen für einen Teilbereich, bspw. für B2B- und B2C-Mediaplanung. Der Schnittstellenaufwand steigt überproportional und wird oftmals systematisch unterschätzt. Antizipatives Arbeiten und adressatengerechte Kommunikation können so manchmal auf der Strecke bleiben. Wieder entstehen Effektivitäts-Nachteile durch isolierte Initiativen, die nicht markenförderlich sind. Gleichzeitig steigt der Anteil des Projekt-Geschäfts, der die Nachhaltigkeit von Maßnahmen einschränkt – falsche gegenseitige Erwartungen tun ihr Übriges.

Unwucht durch Fehlsteuerung

Alle oben beschriebenen Perspektiven liefern einen Teil der Erklärung dafür, warum Marke und Kommunikation nicht ihr volles Potenzial ausschöpfen können. Die Werbeforscher Binet und Field haben gerade wieder diese ‚Unwucht‘ wissenschaftlich untersucht, die in der Kommunikationsplanung zu suboptimalen Ergebnissen führen kann: Überbewertung der Kurzfristeffekte, zu wenig Reichweite für die Kommunikation mit Potenzial-Kunden – also ‚Fischen im selben Teich‘ auch wenn dieser Teich Social Media heißt – und ein Media-Mix, der Aktivierungsmedien dauerhaft den Vorzug gibt. Ob gewollt oder nicht: Geraten die Markenkräfte ins Hintertreffen entsteht ein Ungleichgewicht, das langfristig die Profitabilität schmälert.

Vogelperspektive einnehmen

In einem balancierten Modell müssen Unternehmen hin und wieder in die Vogelperspektive wechseln, um eben jene organisatorischen und psychologischen Einflüsse zu umschiffen, die zur Fehlsteuerung führen. Entsprechen die getroffenen Maßnahmen tatsächlich den ausgegebenen Zielen? Welches Gesamtbild ergibt das Zusammenspiel aller Maßnahmen und Initiativen? Haben wir langfristige Messinstrumente und KPIs definiert, die parallel zur kurzfristigen Kampagnen-Betrachtung in die Bewertung mit einbezogen werden? An welchen Stellen verwässern Ideen und Ziele?

Es ist Aufgabe von Mediaagenturen im Prozess und der Analyse Ungleichgewichte zu erkennen und aus ganzheitlicher Wirkungssicht zu erklären. Die Methodik für diese übergreifende Betrachtung liegt neben einer kundennahen Beratung in den Kernkompetenzen Brand Analytics, Business Intelligence und Marktforschung. Unternehmen müssen diese Disziplinen (auch im eigenen Haus) stärker integrieren bzw. Anknüpfungspunkte zu ihrer Markenstrategie finden.

Vereinigungsmenge statt Schnittmenge

Unternehmen müssen plattformfähig sein, d.h. Austausch und Kommunikation ermöglichen. Dazu gehört es, Spezialisten nach ihren Stärken zusammenzubringen und auch angrenzende Fachbereiche z.B. IT-Spezialisten zu integrieren. Auf Funktionsebene ist es in vielen Fällen kein Nachteil die beiden großen Kräfte Marken- und Abverkaufswerbung zu separieren, aber genauso sinnvoll ist es diese wieder an einen Tisch zu bringen, Aktivitäten abzustimmen und gegenseitige Abhängigkeiten zu erkennen.

Auf Agenturseite ist Schnittstellenfähigkeit ausschlaggebend. Gerade Mediaagenturen sind in viele Entscheidungsprozesse eingebunden. Je übergreifender die Schnittstellen zu Unternehmen und den übrigen Agenturen bearbeitet werden, umso integrierter ist das Gesamtergebnis. Das bedeutet aber auch, dass Ressource und Erfahrung vorhanden sein müssen, um Fehlentwicklungen zu erkennen und mit Unternehmen auf Augenhöhe über Markenstrategie und deren Balance diskutieren zu können.

Letztendlich läuft alles auf ein förderliches Zusammenspiel – nicht aber eine Gleichschaltung von – kurzfristigen Maßnahmen und einer langfristigen Markenstrategie heraus. Der positive Effekt der Vereinigungsmenge zeigt sich auch im Ergebnis: Lt. Binet und Field steigert z.B. Online-Werbung die Effizienz von TV und Earned Media-Kommunikation verstärkt die Wirkung von bezahlter Media. Das Und gewinnt also gegen das Oder.

Wir sollten uns auch immer wieder selbst überprüfen: Wenn Social Media Gurus à la Gary Vaynerchuk via YouTube erklären, dass Social Media TV als Medium ersetzen wird, sind wir schnell geneigt das zu glauben. Aber wann haben wir eigentlich das letzte Mal einen Marketingwälzer von Meffert oder Kotler aufgeschlagen und unsere eigene Perspektive dahingehend ergänzt?