Fußgänger versus Robocars: Wem gehört die Straße von morgen?

Es ist soweit: Autos fahren alleine. In Phoenix lümmeln die menschlichen Aufpasser bereits auf dem Rücksitz ihrer autonomen Waymo Shuttles. Vorne sitzt der Algorithmus und kräht fröhlich: „Guck mal! Kann ich alleine!“ Das aktuell leistungsfähigste Pilotensystem gehört Google/Alphabet: So haben die Waymo-Vans 2017 im Durchschnitt über 9.000 Kilometer ohne Fahrereingriff geschafft. Dem Roll-out in die Massentauglichkeit stehen jedoch die Ureinwohner der Stadt im Weg: die Fußgänger.

Ein Gastbeitrag von Mario Gamper, Vice President of Strategic Design bei BCG Digital Ventures

Ein neues Mobilitätszeitalter rollt aus den Laboren. Folgt man dem “Disengagement Report”, dann haben die Waymo-Vans 2017 im Durchschnitt über 9.000 Kilometer ohne Fahrereingriff zurückgelegt, umgerechnet auf den US-Durchschnittsbürger bedeutet das: ein halbes Jahr vollautomatisches Fahren am Stück. Einziges Problem: die Fußgänger. Sie gehen, rennen, biegen ab ohne zu blinken und halten plötzlich an – eine Zumutung für die  Erkennungsalgorithmen autonomer Autos.

Trolley ist nicht das Problem

Breit diskutiert wird derweil das sogenannte Trolley-Problem. Dessen ethisch brisante Kernfrage könnte man in etwa so zusammenfassen: „Wenn ich schon einen Personenschaden verursachen muss, ist Person A dann schützenswerter als Person B?“

Im Alltag der Robo-Autos wird diese Frage jedoch höchstens eine geringe Rolle spielen. Die  aktuellen Unfallstatistiken sind letztlich eine lange Mängelliste menschlicher Fahrkünste: Überhöhte Geschwindigkeit, Unterschätzen des Bremswegs, Alkoholeinfluss, SMS-Tippen, telefonieren und auf dem Fahrzeugboden nach USB-Kabeln, Zigaretten oder Schokobons suchen. Um besser zu sein als menschliche Fahrer müssen Roboter sich also nicht besonders anstrengen.

Viel wichtiger als eher theoretische Entscheidungen über Leben und Tod ist daher die Frage, wie die Robo-Autos mit Fußgängern zurechtkommen. Machen die sie nervös und provozieren sie zu einer ungekonnten Vollbremsung nach der anderen?

Autonomen Autos fehlt die Körpersprache

Das Verhältnis zwischen Auto und Fußgänger wird nämlich nicht nur durch Ampeln und Zebrastreifen geregelt. Wenn wir uns auf der Straße bewegen, findet ein doppelter Lesevorgang statt: Der Fußgänger liest die Absicht des Fahrers, der Fahrer die des Fußgängers. Autonomen Fahrzeugen fehlt viel subtile Kommunikation: Augenkontakt herstellen, nicken, all die Zeichen, die wir bei Menschen sofort deuten können. Zwar arbeiten Designer bereits fieberhaft daran, Autos eine ähnlich leicht verständliche Körpersprache beizubringen. Bis Modelle wie das Volvo “Smiling Car” oder der Mercedes F105 wirklich in Serie gehen, werden Fußgänger aber lernen müssen, alleine anhand des Fahrverhaltens zu erkennen, ob der Roboter sie gesehen hat.

Doch auch die autonom fahrenden Autos müssen unser Verhalten auf der Straße verstehen. In US-Vorstädten haben sie es dabei leichter: Dort sind Autos und Menschen sauber voneinander getrennt, „wildes“ Überqueren der Straße gilt als Ordnungswidrigkeit, für die man sogar ins Gefängnis kommen kann. In vielen europäischen Städten dagegen ist die Fähigkeit sich frei zu bewegen ein Ausdruck von Lebensqualität – in den Megacities der Welt ist sie schlicht eine Notwendigkeit.

Solche Kulturunterschiede sind eine Herausforderung für die zukünftigen Autopiloten. Ihr “Machine Learning” wird mit Millionen realer und simulierter Meilen gefüttert. Dabei kann es zu “Overfitting” kommen: Das Modell wird den gelernten Daten so eng auf den Leib geschneidert, dass es bei der ersten falschen Bewegung platzt. “Underfitting” passt dagegen eher wie Baggy Pants: Also eigentlich jedem, aber allen gleich schlecht.

Stellen wir uns jetzt vor, ein an Amerikanern geschulter Autopilot mit Overfitting trifft auf junge Menschen in Neukölln, die mit Bierflaschen in der Hand auf der Straße stehen – wollen wir hoffen, dass er auch ohne fertiges Erklärungsmuster richtig reagiert.

 Wie viele bei Rot über die Straße gehen macht einen Unterschied

Ebenso wenig werden US-Autopiloten ab Werk die Risikobereitschaft eines französischen “Piéton” von der eines japanischen “Hokusha” unterscheiden können. Eine Studie der Uni Strasbourg zeigt, dass die Bereitschaft bei Rot die Ampel zu überqueren in Strasbourg etwa 20 Mal so hoch ist wie in Nagoya. Eine Vorgängerstudie hat festgestellt, dass Franzosen eine Lücke von  neun Sekunden zwischen zwei Autos genügt um loszusprinten, während Japaner eine Lücke von 16 Sekunden brauchen.

Das macht Verhaltensmodelle für Fußgänger schwierig. Selbst Waymo, den Wettbewerbern sonst Jahre voraus, sieht sich erst jetzt in der Lage, seine vollautomatischen Robo-Cabs in einer weniger „amerikanischen“ Stadt zu testen: San Francisco. Das ist bemerkenswert, weil man sich für andere Städte bereits marktreif fühlt – schon 2018 startet in Phoenix eine kommerzielle Flotte.

Autopiloten werden neue Verhaltensregeln etablieren

So bahnt sich ein stiller Kulturkampf an: Zwischen den US-Algorithmen auf der einen, und weltweit verschiedenen Fußgängerkulturen auf der anderen Seite. Dabei haben die Autopiloten einen globalisierenden Einfluss: Wir werden uns dem Verhalten der Roboter anpassen und die Welt wird sich wieder ein bisschen ähnlicher. Geringere Unfallzahlen könnten das aber durchaus wert sein.

Die Autoindustrie wird nach einer Balance suchen müssen: Zwischen maximaler Leistung für den Schlüsselmarkt USA und höherer Flexibilität für die chaotischeren Straßen im Rest der Welt. Um im lokalen Miteinander mit Fußgängern zu bestehen, werden die Autopiloten in jeder neuen Stadt dazu lernen müssen.

Über den Autor: Mario Gamper ist Vice President of Strategic Design beim globalen Company Builder BCG Digital Ventures. Er ist einer der Initiatoren des BCG Center for Digital Automotive und Teil des Gründungsteams von BCGDV. Als VP of Strategic Design liegt sein Schwerpunkt auf der Förderung von human-centered Innovationsprojekten, von der ersten Forschung bis hin zu greifbaren Prototypen und MVPs.