Fürchten Sie ernsthaft die Chinesen?

Peking. Mehr als die Hälfte aller Deutschen sehen in Chinas rasanten Aufstieg eine Gefahr. Chinas spektakulärer Aufstieg wird oft mit Variationen ein und derselben Grundthese kommentiert: China war einmal eine Großmacht und wird wieder eine Großmacht werden. Diese These ist absurd, denn niemand würde ernsthaft Ähnliches für die Mayas oder Ägypter annehmen.

In der Tat, Chinas kulturelle, technische und wirtschaftliche Errungenschaften – Porzellan, Schwarzpulver, Seide, Kompass, Papier und Druckerpresse – waren im 15ten Jahrhundert dem Rest der Welt so weit voraus, dass die Expeditionen des chinesischen Admirals Zheng He dem nichts weiter hinzufügen konnten. Nach dem kollektiven Selbstmord Chinas im letzten Jahrhundert sind die heutigen Stärken indes schnell aufgezählt: Billige Preise und die unglaublich hohe Motivation der Menschen, für ein besseres Leben hart zu arbeiten.

Die Liste von Chinas Schwächen im 21ten Jahrhundert ist dagegen etwas länger:

  • Drill und das sture Pauken von vorgefertigten Antworten als oberstes Schulprinzip führt bei vielen Schülern zu einem lebenslangen Mangel an Initiative und Phantasie
  • Tiefes Misstrauen in allen Geldangelegenheiten erzeugt horrende Ineffizienzen im Management und einen Dschungel von roten Stempeln
  • Die Spätfolgen der verheerenden Hungernöte aus Maos verfehlter Wirtschaftspolitik und dreißig Jahre Ein-Kind-Politik haben eine bedrohliche Schieflage in der Altersstruktur und Geschlechterverteilung entstehen lassen
  • Am neuen Wohlstand partizipieren aktuell nur etwa 300 Millionen Chinesen; die rund eine Milliarde Bauern im Hinterland bleiben Tag täglich auf der Strecke
  • Umweltzerstörungen biblischen Ausmaßes, eine schlechtere medizinische Grundversorgung als vor zwanzig Jahren und Willkür der Obrigkeit sorgen für immer lautere Unruhe im Land

Letztes Jahr haben 3,1 Millionen Absolventen die chinesischen Universitäten verlassen. Es gibt rund 1,6 Millionen Ingenieure in China. Bei genauerem Hinsehen, allerdings, verfügt nur jeder zehnte chinesische Hochschulabgänger über die notwendigen Voraussetzungen für eine Tätigkeit in einem internationalen Unternehmen. Nur drei Prozent kommen als Manager für eine generelle Tätigkeit in Frage. Zu diesem Ergebnis kommen Berater von McKinsey in einer kürzlich veröffentlichten Studie. Die Personalchefs beklagen die theorielastige Ausbildung der Universitäten und die viel zu geringe Erfahrung der Absolventen, praktische Lösungen in einem Team zu entwickeln.

Bezeichnend ist die Geschichte eines chinesischen Personalchefs über chinesische Software Ingenieure und deren Schwierigkeiten, den Informationsfluss eines internationalen Fünf-Sterne Hotels aufzuzeichnen. Schwierig nicht weil ihnen Flussdiagramme fremd wären, nein, sondern weil die staatsgeführten Hotels in China – die einzigen die sie kennen – so sehr unterschiedlich sind.

Szenenwechsel: Vor kurzem besuchte ich in meine Alma Mater in Garching. Dort stand Deutschlands erster Atomreaktor und einer der ersten Super-Computer von Cray. Später arbeitete ich im Max Planck Institut für Biochemie in Martinsried und kam gerade rechtzeitig zur Einweihungsfeier als Forschungsminister Riesenhuber uns allen ein herzliches „Forscht mal schön“ mit auf dem Weg gab. Alles war nur vom Besten, leidenschaftliche Gesichter wohin man schaute. Heute, allerdings, vegetieren diese Forschungseinrichtungen so im Schatten ihres einstigen Glanzes, dass einem das Herz blutet. Ganz Deutschland regt sich über den Technologie-Klau der Chinesen auf, und dass sie „unseren“ Transrapid einfach abkupfern. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich vor gut 40 Jahren ein funktionsfähiges Modell der Magnetschwebebahn im Deutschen Museum sah. Seither hat der Transrapid endlose Schleifen im Emsland gedreht, ohne dass etwas passiert ist.

Jetzt versetzen Sie sich einmal in das Jahr 1835 als die erste Eisenbahn von Nürnberg nach Fürth fuhr. Ich habe zwei Fragen an Sie: Glauben Sie, dass Johann Krigar, der in Deutschland als Erster eine englische Dampflok nachbaute, jemals Lizenzgebühren an John Blenkinsop oder James Watt bezahlte? Und, dass es möglich gewesen wäre, ein nationales Eisenbahnsystem mit dem Verkauf von Fahrkarten nach Fürth aufzubauen? Aus dieser Geschichte ergeben sich zwei Schlussfolgerungen:

Erstens: Der Wert einer Idee nimmt mit der Zeit immer schneller ab. Die harte Realität ist, dass sich der Zeitvorsprung von der Idee bis zur Kopie weiter dramatisch verkürzen wird. Patente und Copyrights dagegen werden immer weniger helfen …

Die zweite Schlussfolgerung ist, dass neue, bahnbrechende Technologien nicht privatwirtschaftlich realisiert werden können. Es gibt Grenzen der Privatisierbarkeit, beziehungsweise Untergrenzen der Staatsleistung für Forschung und Entwicklung …

Was haben Fürth, Garching, Martinsried und der Transrapid gemeinsam? So jedenfalls kann man den Herausforderungen aus dem Reich der Mitte und den damit verbundenen globalen Herausforderungen nicht begegnen und gleichzeitig die Lebensstandards in Deutschland halten. Denn: Es ist nur eine Frage der Zeit bis die chinesischen Hochschulabgänger das Flussdiagramm eines internationalen Fünf-Sterne Hotels aufzeichnen können. Bis dahin bleibt etwas Zeit um mit einer Neuauflage der berühmten deutschen Tugenden die dringendsten Probleme dieses Planeten zu lösen: Energie, Umwelt, Viren, Mobilität. Ganz entscheidend ist, dass dazu künftig erhebliche Staatmittel nicht so sehr in die Milderung der Wirtschaftsflaute, sondern in Grundlagenforschung und Technologieentwicklung investiert werden. Man darf in dieser Frage nicht die Ursachen und Auswirkungen verwechseln.

Furcht vor der gelben Gefahr ist jedenfalls ein ganz schlechter Ratgeber für die Herausforderungen Deutschlands. Hätten die Deutschen bereits den Antigravitationsantrieb erfunden, keiner würde heute dem Transrapid eine Träne nachweinen …

Über den Autor: Tom Ramoser war bislang Partner und Head of the Global Strategic Brand Development Group bei Roland Berger.