DMV-Präsident Ralf Strauß: „Alle unterhalten sich über Programmatic-Advertising und kaum einer hat verstanden, wie es funktioniert“

Keine Frage: Die Marketingprofis von heute arbeiten auf vielen Baustellen gleichzeitig. Sie müssen ihr Tagesgeschäft im Griff haben, Systeme und Prozesse erneuern, sich mit neuen Technologien auseinandersetzen und wichtige Trends von Strohfeuern unterscheiden. Trotzdem: Jetzt ist die große Zeit der Marketer, ist DMV-Präsident Ralf Strauß überzeugt und erklärt im Interview die Gründe dafür.

Herr Strauß, was treibt die Marketer derzeit um?

PROF. DR. RALF STRAUß: Eine Vielzahl an Themen. Wenn ich ehrlich bin, haben die sich in den vergangenen Jahren strukturell nicht sonderlich verändert. Auf der einen Seite sind es die operativen Fragen, die die Marketer beschäftigen: Wie setze ich Marketing-Automatisierung um? Wie nutze ich Data-Management-Plattformen? Wohin geht die Reise im Programmatic-Advertising, in der Blockchain-Technologie, in der künstlichen Intelligenz? Daran schließen sich auf einer höheren Ebene Fragen an, etwa nach den erforderlichen Infrastrukturen, nach Kompetenzen und schließlich, welche Form der Organisation eigentlich erforderlich ist, um diese Themen parallel zum Tagesgeschäft aufzusetzen. Und das dritte große Thema auf der obersten Ebene ist die Umsetzung, wo es oft hakt. Wer Umsetzungsprobleme hat – sei es in der Marketingplanung, im Marketing-Resource-Management, im Digital-Asset-Management oder bei Data-Management-Plattformen –, aus dessen Sicht ist es recht egal, welche weiteren großen Themen noch anstehen. Das operative Geschäft und die Probleme in den Prozessen sowie fehlende Umsetzungskompetenzen verhindern die Neuausrichtung von Anfang an.

Gerade Blockchain, Marketing-Automation, künstliche Intelligenz sind ja enorm abstrakte Schlagworte, von denen noch gar keiner so genau weiß, wie denn der praktische Nutzen im Marketing sein könnte.

Das ist wahr. Sie sagen so nett „abstrakt“. Teilweise sind es tatsächlich Buzzwords. Alle unterhalten sich über so was wie Programmatic-Advertising und kaum einer hat verstanden, wie es funktioniert, sondern sie retten sich in Schlagworte. Ob das Blockchain ist, ob das künstliche Intelligenz ist oder ob das Data-Management-Plattformen sind – ein Schlagwort jagt das nächste und die Dienstleister befeuern die Diskussion auch noch entsprechend. Es wäre gut, mal tief Luft zu holen, genau hinzuschauen, sich schlau zu machen und dann zu überlegen, ob und wie man welche Handlungsfelder in welcher Zeittaktung in der jeweiligen Organisation umsetzen kann und möchte. Hier hat es sich in vielen Fällen bewährt, mit einem Audit und im Vergleich mit anderen Unternehmen die wichtigsten Handlungsfelder herauszuarbeiten und diese entlang einer Transformation Map zeitlich zu priorisieren.


Am 5. und 6.12.2018 startet der Deutsche Markeing Tag 2018 in Hannover. absatzwirtschaft berichtet in den nächsten zwei Tagen ausführlich über die Veranstaltung. Hier geht es zum Special.


Wo genau kann sich der Marketer oder die Marketerin zu solchen Themen denn objektiv informieren?

Ich hoffe – mal gucken, ob uns das wieder gelingen wird –, dass die Sessions des Deutschen Marketing Tags Aufklärung liefern. Die Kollegen, die wir dabei haben, haben sich alle da-rauf verständigt, keinen inhaltsleeren Sales-Pitch abzuliefern, sondern inhaltlich saubere und tragfähige Lösungen vorzustellen, die sie in ihrem Unternehmen praktizieren. Und dabei auch ihre Umsetzungserfahrungen zu teilen – also im Sinne: Was funktioniert, was funktioniert nicht? Zum anderen hilft es, sich mit Kollegen aus der gleichen Industrie oder anderen Industrien kurzzuschließen und auszutauschen. Denn so ein Thema wie künstliche Intelligenz wird ja vom  Bankenbereich bis zur Telekommunikation diskutiert. Die Verantwortlichen haben ja abstrakt gesehen – und unabhängig von B-to-B oder B-to-C – alle die gleichen Themen auf dem Radar.

Also ist es selbst in digitalen Zeiten der persönliche Austausch, der die Marketingprofis weiterbringt?

Daran glaube ich zutiefst. Was alle unglaublich nervt und auch zur Verunsicherung beiträgt, sind inhaltsleere Sales-Pitches, die sie auf manchen großen Kongressen hören. Da geht einer auf die Bühne und macht einen Sales-Pitch, dann kommt der nächste und macht den nächsten Sales-Pitch, und zum Schluss hat man erstens nichts gelernt und zweitens höchstens verstanden, dass dort jemand etwas verkaufen wollte.

Also sollten die Leute nicht auf Kongresse gehen?

Doch. Ich empfehle zweierlei. Erstens „Cherry Picking“ zu praktizieren und genau zu gucken, zu welchen Konferenzen man geht. Und ich hoffe sehr, dass es uns mit dem Deutschen Marketing Tag wieder gelingen wird, inhaltlich tiefgründig zu überzeugen. Zweitens rate ich zum Peer-Austausch über unterschiedliche Industriesegmente. Dafür gibt es einen Riesenbedarf im Markt. Wir sehen es an der CMO Community. Dort treffen sich mittlerweile 83 Kollegen und Kolleginnen zwei Mal im Jahr. Im Juni haben wir die Digital CMO Community gelauncht, die jetzt auch schon 35 Mitglieder zählt. Kollegen der unterschiedlichsten Branchen wollen einfach mal die Tür hinter sich zumachen und von ihren Kollegen aus anderen Unternehmen hören, wie sie bestimmte Dinge angehen und ob diese funktionieren oder nicht. Und wenn ein Kollege sagt, „das haben wir probiert und viel Geld versenkt, lass die Finger davon“, dann ist den Leuten geholfen. Solche Fünfminutenaussagen und Austausche sind meistens unbezahlbar.

Führungskräfte im Marketing sind ja nicht nur mit den neuen Technologietrends konfrontiert. Schon das Tagesgeschäft ist ja eigentlich komplex genug, angesichts der anfallenden Datenfluten, der gestiegenen Konsumentenerwartungen oder der homogenen Produktqualitäten. Kurzum: Eigentlich haben sie ohne KI & Co. schon genug zu tun.

Das stimmt. Nun gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder ich sterbe in Dummheit oder ich entscheide mich trotz aller Alltagsanforderungen dafür, diese Zeit zu investieren, Wissen aufzubauen und mir Gedanken zu machen, was ich in meiner Arbeit wie umsetzen sollte. Dafür muss ich schon meine Zeit und Gehirnschmalz einsetzen, denn es gibt kein Standard-Template-Vorgehensmodell von der Stange. So ist der Einsatz von KI im Versicherungsbereich vielleicht sinnvoll, im Automobilbereich aber überhaupt nicht – es gibt keine Lösung von der Stange.

Hilft Erfahrung oder auch die Marketing-Ausbildung, die man vielleicht vor 15, 20 Jahren an der Uni abgeschlossen hat?

Kommt darauf an, welche Schwerpunkte man belegt hat. Ich glaube zutiefst, die Grundlagen sind immer noch nützlich. KI zum Beispiel hat mit multivariater Statistik zu tun. Die Mechanismen, die man gelernt hat, das Grundhandwerkszeug, sind ja nicht weg, sondern in einem anderen Anwendungskontext einzusetzen. In andere Themen, die ich in der Ausbildung vielleicht nicht mitbekommen habe, muss ich mich einarbeiten, wie etwa in die Wirtschaftsinformatik. Dabei geht es um ein Grundverständnis auf konzeptioneller Ebene – keiner muss alle Details der Programmierung verstehen. Aber ich muss mich mit neuen Themen auseinandersetzen, und wenn ich sie damals in meinem Marketingstudium nicht gelernt habe, muss ich sie mir selber aneignen und halt mal zwei, drei Workshops dazu machen. Die Herausforderung lautet: Das hört nicht auf und geht nicht weg. Themen, die heute wichtig sind, sind es vielleicht in einem Jahr nicht mehr, aber dafür sind es dann wiederum andere Themen. Die Notwendigkeit zur Weiterentwicklung in einem permanenten Lern- und Projektmodus bleibt auf alle Fälle erhalten. Im Grunde genommen muss man die gesamte Marketing-Tech-Landschaft einmal konzeptionell durchdringen und sich da durcharbeiten, das bleibt einem nicht erspart. Und es kostet Zeit. Ich glaube übrigens, dass es auch immer noch einen riesen Nachholbedarf bei Grundlagenthemen des operativen Prozessmanagements wie Marketing-Resource-Management oder im Kampagnenmanagement gibt. Und dabei handelt es sich um Brot-und-Buttergeschäft.

Woran liegt das?

Wenn man die Wahl hat, etwas zu machen, was eher kurzfristige Erfolge verspricht versus langfristig und mühevoll Systeme und Prozesse aufzubauen, dann ist verständlich, was die meisten wählen.

Was aber daran liegen kann, dass die Verweildauer von CMOs in großen Unternehmen oft sehr kurz ist. Man gibt vielen Marketingentscheidern oft gar nicht die Chance, langfristig zu agieren, sondern erwartet ganz im Gegenteil von ihnen die schnellen Erfolge.

Das mag gut sein. Dennoch muss ich als Verantwortlicher den Bereich für die Zukunft sattelfest machen. Ob nun ich oder mein Nachfolger davon profitieren – in jedem Fall müssen Kompetenzen, Strukturen und Systeme aufgebaut werden … no way out.

Sind wir da nicht auch beim Stellenwert des Marketing in der Unternehmensführung? Eigentlich müsste es jedem CEO einleuchten, genau diese Investition in Marketing zu tätigen. Fakt ist aber, dass das vielfach nicht der Fall ist. Also scheint der Einfluss der Marketer auf strategische unternehmerische Entscheidungen nicht besonders groß zu sein.

Weiß ich nicht. Wenn ich mir Unternehmen wie die Telekom, Hornbach, Mercedes oder andere Unternehmen ansehe, dann – so zumindest mein Eindruck – hat der Einfluss zugenommen. Aber ich würde auch sagen: Wenn es ein Marketingleiter nicht schafft, mittel- und langfristige Strukturen aufzubauen und sauber durchzudigitalisieren, dann ist das Problem eher hausgemacht. Im Englischen würde man sagen: „You have got to earn the right“ … und zwar nicht per Rollendefinition, Organisations-Chart oder althergebrachtem Standesdünkel, sondern qua Ergebnissen.

Also ist die gern geführte Diskussion um die sinkende Bedeutung des Marketing eher weinerlich?

Genau. Sie erscheint mir eher larmoyant und folgt dem Motto: „Keiner mag mich und ich bin das hässliche kleine Entlein.“ Jeder ist seines Glückes Schmied. Aber dazu brauchen wir für die Organisationen qualitativ hochwertige Weiterbildung, durch Trainer und Referenten, die diese Rollen mal gehabt haben beziehungsweise tief mit den Herausforderungen in Umsetzungsprojekten vertraut sind. Also weniger Jugend forscht als vielmehr seniore Trainer, die auch qua Authentizität Inhalte weitergeben und verankern können. Wenn ich mal alle Inhouse-Trainings der letzten zwei Jahre vergleiche, die wir machen konnten, zeigt sich immer wieder: Erfahrung und Authentizität – im Sinne von „I have done it before“ – funktionieren in den Trainings besser als großartige Methodik und Didaktikinstrumente.

Welche Rolle könnte denn das Marketing nach Ihrem Dafürhalten in der digitalen Transformation eines Unternehmens spielen, wenn’s so richtig gut läuft?

Schon durch die Vervielfachung der Kundeninteraktionspunkte und -kanäle, die heute keiner mehr richtig steuern kann, leben wir in einer Zeit, in der Marketing enorm wichtig ist. Wenn es mal eine Zeit für das Marketing gegeben hat, dann jetzt. Wenn man es jetzt nicht schafft, mit innovativen Konzepten und Umsetzungsprojekten zu reüssieren, wann denn dann? Die Mehrzahl der Tools, die auf den Markt gebracht werden, zeigt in Richtung Marketing. Alle Analysten – wie Gartner, Forrester
und andere – prophezeien, dass die größten IT-bezogenen Spendings über die nächsten Jahre ins Marketing fließen. Das heißt: Showtime!

Also sind Fleiß, Intelligenz und Durchsetzungskraft gefragt?

Meine alte Rede: Qualität kommt von quälen. Es gibt keine einfache Lösung.

Okay, nun leben wir in Zeiten der Digitalisierung, alles ist wahnsinnig schnell und alles verändert sich. Aber ist nicht auch das eine larmoyante Diskussion? Andere haben in der Nachkriegszeit Unternehmen aufgebaut, die Nächsten hatten mit dem Ölpreisschock zurechtzukommen, wieder die Nächsten hatten Angst vor der Eskalation des Ost-West-Konflikts. Die ganze Diskussion erscheint mir manchmal ein bisschen hysterisiert, als hätten es alle ganz furchtbar schwer.

Das glaube ich auch nicht. Vielleicht muss man einfach mal schauen, woher die Diskussion denn kommt, dass die Zeit einer – vermeintlichen – Komfortzone vorüber ist. Es gibt einen Riesenstau an Themen, um die sich viele aus welchen Gründen auch immer jahrelang nicht gekümmert haben, und nun kommen auch noch neue Themen von allen Seiten. Die Marketer haben also ihr Tagesgeschäft, sie haben ihre Brot- und Butterthemen und nun kommen auch noch neue Themen on top. Und das ist ein unglaublicher Stretch. Aber wie gesagt: Wir können uns jetzt in die Ecke verziehen und darüber klagen, wie schlecht die Welt zu uns ist. Oder wir sagen: Schöne neue Welt, welch tolle Möglichkeiten tun sich auf und los geht die Party!

(vh, Jahrgang 1968) schreibt seit 1995 über Marketing. Was das Wunderbare an ihrem Beruf ist? „Freie Journalistin mit Fokus auf Marketing zu sein bedeutet: Es wird niemals langweilig. Es macht enorm viel Spaß. Und ich lerne zig kluge Menschen kennen.“