Digitale Transformation und Künstliche Intelligenz: Neue Chancen für das Marketing

Die digitale Transformation steckt in vielen deutschen Unternehmen noch im Anfangsstadium. Grund ist vor allem ein zu starker Fokus auf digitalen Technologien zur Steigerung der Effizienz bestehender Prozesse. Die Marketing-Verantwortlichen spielen eine Schlüsselrolle, um diese Probleme zu umgehen und von Digitalisierung sowie KI umfassend zu profitieren.

Ein Gastbeitrag von Ulrich Lichtenthaler, Professor für Management und Entrepreneurship an der ISM – International School of Management

Mit einer detaillierten Analyse der Änderungen in der Wertschöpfungskette und im digitalen Ökosystem kann das Marketing die neuen Chancen im erweiterten strategischen Raum aufzeigen, die sich den meisten Unternehmen durch Digitalisierung und künstliche Intelligenz (KI) aktuell bieten.

Aktuelle Situation

Es gibt sie, die großen digitalen Erfolgsgeschichten am Standort Deutschland. So hat sich zum Beispiel das Startup Auto1 aus Berlin, u.a. mit der digitalen Plattform wirkaufendeinauto.de, innerhalb von fünf Jahren zum führenden Gebrauchtwagenhändler in Europa entwickelt. In vielen deutschen Unternehmen ist die aktuelle Lage mit Blick auf die digitale Transformation jedoch ernüchternd. Viele Firmen haben in den letzten Jahren Digitalisierungsinitiativen gestartet, die allerdings oft nicht die anfangs erhoffte Wirkung gezeigt haben. Dies versuchen jetzt viele Führungskräfte dadurch zu ändern, dass sie einerseits die Digitalisierungsbemühungen verstärken und andererseits zunehmend mit KI experimentieren, um die nächste Generation komplexer Daten- und Analytik-Anwendungen nutzen zu können.

Mit diesen Schritten wird versucht, den oft vorhandenen Rückstand auf internationale Wettbewerber im Bereich von Digitalisierung und KI aufzuholen, der sich in zahlreichen aktuellen Studien zeigt. Zum Beispiel stellen die Führungskräfte, die sich an einer Studie der Unternehmensberatung etventure im Jahr 2018 beteiligt haben, dem Standort Deutschland eine Schulnote von lediglich 3,3 aus, d.h. befriedigend bis ausreichend und somit keineswegs gut. Viele bisherige digitale Initiativen waren zu sehr auf die Nutzung von Daten zur Steigerung der Effizienz ausgerichtet. Auch liegt der Fokus oftmals zu sehr auf der Implementierung technologischer Lösungen. Dadurch bleiben die großen Möglichkeiten der digitalen Transformation zu oft ungenutzt, gerade mit Blick auf die Erschließung neuer Märkte durch ganz neue Lösungen für die Kunden – und genau hier bieten sich riesige Chancen für die Marketing-Verantwortlichen in vielen Firmen.

Aktuelle Entwicklungen

Um die Chancen der digitalen Transformation durch völlige neue Lösungen mit einem klaren Mehrwert für die Kunden zu nutzen, ist das Marketing gefordert. Gleichzeitig ist das Marketing aufgrund seiner Expertise auch in der Pole Position, wenn es darum geht, den zu starken Technologie-Fokus der bisherigen Initiativen auszugleichen durch Beachtung folgender Inhalte:

  1. Detaillierte Untersuchung, wie sich die Wertschöpfungskette des eigenen Unternehmens durch Digitalisierung und KI ändert, zum Beispiel durch Sammlung und Analytik großer Datenmengen.
  2. Umfassende Analyse, wie sich die bisherige Branchenstruktur in Richtung eines komplexen Ökosystems wandelt mit neuen Akteuren, zum Beispiel digitalen Plattformen und IT Dienstleistern.
  3. Konzeptionelle Erarbeitung, wie sich der strategische Raum für Innovation und Wachstum durch die neuen Akteure und neuen Aktivitäten in der Wertschöpfungskette erweitert, z.B. Chancen für neue Kundenlösungen, digitale Dienstleistungen und radikale Geschäftsmodelle.

Aktuelle Chancen

Durch ihr vertieftes Markt- und Kundenverständnis sind die Marketing-Verantwortlichen oftmals besser aufgestellt als viele andere Bereiche in Unternehmen, um die Chancen durch Digitalisierung und KI anzugehen, die über reine Effizienzsteigerungen hinausgehen. Erstens können dafür die bestehenden Produkte und Dienstleistungen angepasst werden, um neue Kundengruppen zu erreichen. Zum Beispiel nutzt Adidas seine Speedfactory zur individuellen Anpassung von Sportschuhen für den einzelnen Kunden. Zweitens können ganz neue Lösungen und Angebote für die bestehenden Kunden entwickelt werden. Beispielsweise bietet der Landmaschinenhersteller Claas datengestützte und cloudbasierte Lösungen für Digital Farming an. Drittens können durch Kombination dieser Vorgehensweisen neue Lösungen für neue Kundengruppen auf den Markt gebracht werden. Zum Beispiel verändert und optimiert Siemens die industrielle Fertigung mit seiner MindSphere Plattform für die digitale Fabrik und erschließt so neue Kundengruppen.

Insgesamt können sich damit Wachstumschancen in ‚blauen Ozeanen‘ mit relativ wenig Wettbewerb eröffnen. Hierfür sollte das Marketing mit eigener Initiative die Chancen aus seiner Sicht aufzeigen und die digitale Transformation nicht dem Chief Digital Officer oder IT Verantwortlichen überlassen. Außerdem sollte eine proaktive Marktorientierung verfolgt werden, die sich gerade nicht nur auf die Bedürfnisse bestehender Kunden in bisherigen Märkten konzentriert, sondern Wachstum und ganz neue Chancen verfolgt. Hierfür sollten die Marketing-Experten aktiv auf andere Bereiche zugehen, um gemeinsam mit diesen die neuen Chancen zu nutzen und konkrete Projekte voranzutreiben. Ebenso wenig wie eine rein technische Aufgabe ist die digitale Transformation eine reine Marketing-Aufgabe. Vielmehr sind Digitalisierung und die zielgerichtete Nutzung künstlicher Intelligenz ein Teamsport, der nur gemeinsam in der Organisation zum Erfolg geführt werden kann – idealerweise mit den Marketing-Verantwortlichen als Schrittmacher.

Über den Autor: Prof. Dr. Ulrich Lichtenthaler ist Professor für Management und Entrepreneurship an der ISM – International School of Management in Köln. Außerdem ist er Speaker, Executive Coach sowie freiberuflicher Berater und hält Schulungen zu digitaler Transformation, künstlicher Intelligenz, Innovation und neuen Geschäftsmodellen.