Der Markt mutiert zur Sanduhr

Schon wieder müssen wir uns von einer gelernten Regel verabschieden. Wir hatten uns so an sie gewöhnt. Die traditionelle Einteilung der Märkte nach Preisklassen in Oben, Mitte und Unten löst sich auf. Das gleiche gilt für die Einteilung nach Qualitäten in Oben, Mitte und Unten. Oder nach Zielgruppen in Oben, Mitte, Unten. Die Mitte beginnt sich auszudünnen. Vor allem in Konsum- und Gebrauchsgüter-Märkten wird der Sanduhr-Effekt sichtbar. Einer der Treiber dieser Entwicklung ist der Handel. Für ihn gibt es in Zukunft nur zwei Welten: Waren und Dienste, die die Grundbedürfnisse des Konsumenten befriedigen, und Waren und Dienste, die seine Wünsche und Ansprüche, seine Selbstverwöhnung und andere Motive beim Kauf bedienen.

Diese Zweiteilung ist das neue Spielfeld. Und in jedem Menschen steckt beides: Ein Stück Aldi und ein Stück Armani. Dieses persönliche Portfolio von Werte-Systemen, bei denen einmal die ‚needs’ und ein anderes Mal die ‚wants’ im Vordergrund stehen, wird zum zukünftigen Kopfzerbrechen des Marketing. Die unberechenbare Mixtur, die in jedem von uns steckt, erschüttert die Planungs-Methoden und Zielgruppen-Definitionen der Vergangenheit. Der Philosoph Günther Anders sagt: „In einer Überflussgesellschaft wird nicht mehr das Angebot knapp, sondern die Wünsche“. Er beschreibt damit den oberen Teil der Sanduhr. Ich bezeichne ihn mal als „Verwöhn-Shopping“. Und Oscar Wilde sagt: „Wir leben in Zeiten, in denen jeder den Preis, aber keiner mehr den Wert einer Ware kennt“. Das beschreibt den unteren Teil der Sanduhr, dafür könnte man den Begriff „Smart Shopping“ wählen.

Zu welchen Konsequenzen führt die Sanduhr-Theorie?

Die Motivation zum Smart Shopping hat sich in den letzten Jahren verstärkt und ist das Resultat von politischer und wirtschaftlicher Unsicherheit. Aber sie ist auch die Folge lautstarker Parolen wie „Geiz ist geil“ oder anderen. Diese griffigen Slogans haben den Verbraucher zum begeisterten Smart Shopper erzogen und vermitteln ihm den Eindruck, dass mit jedem Kauf alles immer billiger wird. Wichtig dabei ist: „Smart“ steht längst nicht mehr für billig und für Leute, die wenig Geld haben. Nein. „Smart“ ist zu einer Art Gesellschaftsspiel geworden. Man sieht das sportlich, zeigt sich schlau, ist besser informiert. Und kann über seine täglichen kleinen Siege in der Konsumwelt stolz berichten. Es geht nicht mehr so sehr um die Ware. Das Erlebnis, einen ‚deal’ gemacht zu haben, wird zum Ansporn.

Dass der gleiche Mensch, der mit dem 29,– Euro Ticket nach Mailand geflogen ist, sich anschließend genussvoll die 590,– Euro Prada-Tasche, möglichst mit 10 Prozent Preisnachlass ergattert, diesen Triumph bei einem 160,– Euro Lunch feiert, um dann wieder für 29,– Euro nach Hause zu fliegen, demonstriert das Shopping nach der Sanduhr. Wozu noch die Mitte?

Das Verwöhn-Shopping entsteht sogar in schwierigen Zeiten aus der elementaren Psyche des Menschen. Im Buch „Generation Golf“ heißt es: „Wenn es uns schon schlecht geht, wollen wir es uns wenigstens zwischendurch gut gehen lassen“. Gerade dann sucht der Mensch ab und zu mal etwas für sich. Um sich zu verwöhnen. Um sich zu belohnen. Um sich zu unterscheiden. Aber dann muss es auch etwas besonderes sein. Feinste Qualität oder Exklusivität: das Konzept der Verknappung feiert hier Urstände. Und das mit zunehmender Tendenz. Die „Geiz ist geil“-Welle wird an ihrer Banalität und Trivialität ersticken. Und es tritt fast zwangsläufig die Sehnsucht nach Qualität sein. So ist der Mensch nun einmal. Schön für das Marketing. Aber auch hier spielt die Mitte keine Rolle. Der Automobil-Markt erlebt das zurzeit am eigenen Leib. Die Mittelklasse wackelt.

In unserer Entweder/Oder-Gesellschaft scheint für die Mitte kein Grund mehr vorhanden. Wen interessiert schon das normale, das mittelmäßige, das durchschnittliche. Normale Qualität zum normalen Preis? Warum auch? Wenn es die Alternativen gibt: Lagerfeld zum H&M-Preis. Oder den 10,– Euro Rentner-Staubsauger bei Saturn in der aggressiven Welt des Smart Shoppings. Oder am oberen Ende die limitierte, exklusive und nummerierte Uhr in der Preislage eines ausgewachsenen Automobils. Oder gerne auch das Handy mit Platin und Edelholz. Jedem das seine. Mal so, mal so. Das neue daran: Alles vereint in einem Menschen, der dem Marketing nicht mehr erlaubt, ihn in homogene Cluster, in einheitliche Verhaltens-Muster einzusortieren. Schon gar nicht demographisch. Und immer schwerer psychographisch.

Das Ende des Massen-Marketings?

In der ganzen Welt dreht sich der Umbau der Marken-Portfolios immer schneller. Bei globalen Marken-Herstellern genauso wie bei lokalen. Das Massen-Marketing passt immer weniger zur Return-on-Investment-Mentalität. Schon gar nicht zur immer stärkeren Individualität der Konsumenten. Steht uns das Ende des Massen-Marketing bevor? Und ist das der Beginn eines komplexen und teuren Weges zum Ich-Ich-Ich-Marketing? Mit all seinen unwägbaren und volatilen Elementen, die den Marketing Controller mit seiner präzisen „Wann bekomme ich mein Geld zurück?“-Mentalität erschauern lassen? Und die die Wertschöpfung von Marken unter neuen Stress setzen werden. Diese neue Welt stellt harte Fragen. Entscheidet man sich für eine Wertstrategie im oberen Segment des Verwöhn-Shopping? Oder für eine Volumen-Strategie im riesig wachsenden Volumen-Segment des Smart Shoppings? Wie ist man darauf vorbereitet? Mit Produkten, mit Vertriebs-Organisation, mit Markenwert, Kommunikation und und… Zwei vollkommen getrennte Kaufmotivationen der Verbraucher gilt es hier, präzise zu treffen. Einmal in der Abteilung ‚Begehrlichkeit wecken’. Zum anderen in der Abteilung ‚Value for Money liefern’.

Oder muss man sich nicht eine neue Frage stellen: Wenn ein und derselbe Mensch sich täglich in beiden Welten tummelt – muss man nicht auch selbst in beiden Teilen der Sanduhr tätig sein, um seine Kaufkraft voll auszuschöpfen? Freilich mit total verschiedenen Marketing-Strategien, die auf den genannten Kauf-Motiven aufbauen und sie präzise reflektieren. Oder um die Economy of Scales zu maximieren eben in beiden. Der Handel beginnt, die Doppel-rolle schon zu spielen. Bei Douglas leben die Schütten mit runter gepreisten 2,99 € Artikeln und die 500,– Euro Creme im feinen Regal des Ladens schon ein gemeinsames Leben. Und um beim Beispiel zu bleiben: Beides kommt von ein und demselben Hersteller Beiersdorf: Nivea und La Prairie lassen grüßen.

Resumee

Noch dominiert in den Köpfen die klassische Formel Oben, Mitte und Unten. Noch gilt die These: Entweder Volumen-Strategie oder Wert-Strategie. Die Zukunft wird aus dem Entweder/Oder vielleicht ein sowohl-als-auch machen. Nur, wer immer noch an die Mitte glaubt, wird sein Geschäft gefährden.

Über den Autor: Bernd M. Michael ist Chairman & CEO, Grey Global Group Europe, Middle East & Africa.