Das Fernsehen ist auf dem Sprung

Die Sehdauer steigt auf hohem Niveau, zugleich wird die TV-Nutzung mobiler und interaktiver. Sender und Werbungtreibende müssen sich darauf einstellen.

Von Roland Karle

Die meisten Jugendlichen, die ihn ansprechen, sagt Hape Kerkeling, kennen ihn von Youtube. Und vermutlich halten sie Horst Schlämmer, den er prominent verkörpert, für seinen richtigen Namen. Der Komiker selbst sorgt sich ernsthaft um das Fernsehen. Als er heranwuchs, strebte das Medium, geprägt von wenig Sendern und großen Showmastern, seinem Höhepunkt entgegen. „Heute“, bedauert Kerkeling, „erlebe ich seinen Niedergang.“

Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. So wird in Deutschland durchschnittlich 225 Minuten pro Tag ferngesehen, in allen EU-Ländern sind es gar 230 Minuten und weltweit liegt der Mittelwert bei 196 Minuten, wie aus der Studie „Television – International Key Facts“ der IP-Gruppe hervorgeht. Ungeachtet aller Qualitätsdiskussionen ist das Fernsehen das mit Abstand am meisten genutzte Massenmedium. Hierzulande hat die Sehdauer im Fünfjahrestrend sogar um 17 Minuten zugelegt. Zum Vergleich: Der Zeitaufwand für digitale Medien liegt mit täglich 107 Minuten erst bei knapp der Hälfte.

Fernsehen behauptet Position als Werbeträger

Auch als Werbeträger hat das Fernsehen seine Position behauptet. In den vergangenen zehn Jahren lag sein Anteil am Netto-Werbemarkt konstant zwischen 20 und 21 Prozent, 2010 überflügelte das Fernsehen erstmals die Tageszeitungen als umsatzstärkste Kraft, daran wird sich auch 2012 nichts ändern: Im ersten Halbjahr stiegen die Werbeeinnahmen, errechnet auf Bruttobasis nach Nielsen, um 4,4 Prozent gegenüber dem Vergleichszeitraum 2011, während die Publikumsmagazine 3,5 und die Zeitungen gar 4,9 Prozent einbüßten.
Was sich aus den aktuellen Daten nicht ablesen lässt: Zuschauer sind auf dem Sprung und das Fernsehen gleitet hinüber in eine neue Dimension. Dass ein Star wie Kerkeling, groß geworden im TV klassischer Prägung, seine Popularität nun auch jungen, interaktiven Medienplattformen wie Youtube verdankt, ist dafür ein Indiz. Die Mehrheit der Zuschauer praktiziert zwar noch immer lineares Fernsehen, konsumiert TV zu einer festgelegten Zeit und über einen bestimmten Kanal, aber die Optionen sind heute schon mannigfaltig. Dank Internet und einer Vielzahl digitaler Empfangsgeräte ist weder der Nutzungszeitpunkt noch die Medienplattform so eindeutig verankert wie in den Jahrzehnten zuvor.

Social TV – klarer Trend oder vorübergehender Hype?

Der Weg für Social TV ist bereitet. Verstanden wird darunter die gleichzeitige Nutzung von Fernsehen und sozialen Netzwerken wie zum Beispiel Facebook und Twitter. Uneins sind Experten darüber, wie schnell und wie stark sich dieser Trend durchsetzen wird. So hat die Mediaagentur Mindshare in einer Befragung von 1.139 Onlinenutzern herausgefunden, dass zwar jeder vierte einen internetfähigen Fernseher besitzt, aber erst eine Minderheit den mitgelieferten Netzzugang auch nutzt. Ob Social TV mehr als nur ein vorübergehender Hype ist, wird nicht entscheidend von der Multifunktionalität eines Gerätes abhängen. Schon jetzt geht der Trend klar zum „Zweitschirm“ (Second Screen). „Die Mediennutzung der Deutschen befindet sich derzeit in einem gewaltigen Umbruch. Dabei gewinnt die parallele Nutzung von Fernsehen und Internet via Laptop, Tablet oder Smartphone zunehmend an Bedeutung“, betont Guido Modenbach, Geschäftsführer Sevenone Media.

Wie TV-Werbung am wirtschaftlichsten und wirkungsvollsten funktioniert

Der Werbezeitenvermarkter hat in seiner aktuellen Studie „Navigator Mediennutzung 2012“ herausgefunden, dass knapp 60 Prozent der mehr als 1.000 Befragten das Internet zumindest ab und zu neben dem Fernseher als Kommunikationsplattform oder zum Abrufen von Informationen nutzen. Sendungen, die auf jüngeres Publikum zielen und zum Mitmachen aufrufen, schneiden im Vergleich am besten ab. Nach Berechnungen der Beratungsfirma Schickler könnten sich für die Sender durch Social TV bis 2015 Mehreinnahmen durch Werbung in Höhe von 600 Millionen Euro ergeben, vornehmlich durch Mitnahmeeffekte: Traffic auf Fanseiten führe zu direkten Reichweitengewinnen im klassischen Fernsehen. Zudem könnten 80 Millionen Euro durch Videowerbung eingespielt werden.
Bei allem Wandel bleibt eine Frage für Vermarkter und Werbungtreibende zentral: Wie funktioniert TV-Werbung am wirtschaftlichsten und am wirkungsvollsten? IP Deutschland hat dazu mit dem „Impact Index“ einen Ansatz entwickelt, der die Kontaktqualität in den Mittelpunkt rückt. Dabei wird neben der herkömmlichen eine gesonderte Involvement-Reichweite gebildet. Gezählt werden hierfür jene Zuschauer, die einen Werbeblock und die davor gesendeten fünf Minuten des Programms komplett sehen.

„Das Werbeinvolvement hat von allen gemessenen Variablen erwartungsgemäß den stärksten Einfluss auf die Werbeerinnerung“, sagt IP-Forschungsdirektor Jan Isenbart mit Hinweis auf eine aktuelle Studie mit mehr als 2 000 Interviews, die sich auf sieben verschiedene Sendungen von RTL, Sat1 und Pro Sieben bezogen. Auch das Maß der Hinwendung zum jeweiligen Programm zeige signifikanten Einfluss auf die Werbewahrnehmung. „Der methodische Ansatz des Impact Index stößt auf breite Anerkennung“, sagt Isenbart. „Jetzt geht es darum, dass er im Planungsalltag noch stärker verankert wird.“

„Wir schaffen zusätzliche Touchpoints“

Thomas Wagner, Vorsitzender der Geschäftsführung Sevenone Media, im Interview über Parallelnutzung und Werbewirkung.

Die Fragen stellte Roland Karle.

Das Fernsehen profitiert laut Studien von der Parallelnutzung mehrerer Medien. Dennoch: Sinkt durch geringere oder verteilte Aufmerksamkeit nicht die Werbewirkung?

THOMAS WAGNER: Keinesfalls, die Parallelnutzung bietet uns und den Werbungtreibenden immense Chancen. Nachteile in Bezug auf die Werbewirkung entstehen dabei nicht. Dies bestätigt auch eine große unabhängige Studie, die demnächst im Rahmen der Medientage München veröffentlicht wird. Ganz im Gegenteil: Intelligent genutzt, erhöht der Second Screen das Zuschauer-Involvement und legt so den Baustein für deutlich höhere Wirkungseffekte.

Gilt das auch für die Werbewirkung?

WAGNER: Für Werbekunden ergeben sich völlig neue Potenziale: Sie profitieren von zusätzlichen Touchpoints in der Zielgruppenansprache – gekoppelt an starke Sender und Programmmarken. Auch die psychologische Forschung zeigt, dass Medieninhalte, die nebenbei, im Hinter­grund oder sogar unkonzentriert wahrgenommen werden, extrem wirksam sein können.

Worauf stützen Sie diese Erkenntnisse?

WAGNER: Ob und wie speziell Werbung quasi nebenbei wirken kann, haben wir bereits 2009 in einer umfassenden Studie überprüft. Um die unbewusst wahrgenommenen Botschaften erfassen zu können, haben wir eine teilnehmende Beobachtung, verbunden mit morphologischen In-Home-Tiefeninterviews, durchgeführt. So wurden auch physische Reaktionen erfasst, die den Testpersonen selbst nicht bewusst sind, wie zum Beispiel sekundenschnelles Blicken auf den Bildschirm.

Mit welchem Ergebnis hinsichtlich der Werbebotschaften?

WAGNER: Wir haben bei den Teilnehmern der Studie eine nahezu ungehinderte Durchsetzungskraft festgestellt. Etwaige Abwehrmechanismen werden in Situationen der Nebenbei-Nutzung heruntergefahren und Werbung entfaltet somit eine starke Wirkung. Jeder kennt das, wenn der Fernseher lediglich im Hintergrund läuft und wir uns gar nicht aktiv mit den Inhalten beschäftigen: Eine bekannte Melodie reicht, um eine Marke vor Augen zu haben oder um sogar von einem Ohrwurm durch den Tag zu begleitet zu werden.