Bier oder Business? Wie sich Messen durch junge Formate grundlegend reformieren

Die Zeiten stundenlangen Frontalunterrichts in Kongresssälen sind vorbei. Bei immer mehr Business-Events sind Austausch, Erlebnis und Spaß feste Bestandteile des Programms. Nur eine goldene Zeitgeistlackierung – oder die Zukunft im Konferenzgeschäft?
Die Crowd hört zu, wenn der Hipster redet

Von Christiane Gillissen

Neulich war ich beim Fifteen Seconds Festival in Graz. Die Macher der mit gut 3.500 Teilnehmern besuchten Konferenz haben sich nicht weniger als „Changing the Commercial Future“ als Mission auf die Fahne geschrieben. Auch wenn ich der Zielgruppe schon leicht entwachsen bin, konnte ich doch den einen oder anderen guten Impuls für mein Berufsleben mitnehmen. Der Hauptgrund für meinen – bereits zweiten – Besuch war allerdings ein anderer: Dieses Festival macht schlichtweg Spaß! Denn neben dem üblichen Programm auf großen Bühnen und dem obligatorischen Name-Dropping beim Speaker-Angebot wird man hier in jeder Hinsicht gut unterhalten. Allein das Betreten der eher funktionalen Messehalle wird zum Erlebnis, wenn man sich durch einen grünen Pflanzendschungel den Weg ins Konferenzareal sucht oder Hunderte von Origami-Vögelchen von der Decke flattern, dort, wo die Goodie-Bags ausgegeben werden. Von diesen gibt es gleich sieben verschiedene Variationen mit lustigen Sprüchen – mein Beutel mit „Prevent a Content Tragedy“ sorgte auch im Büro noch für Lacher. Langweilige Messestände sucht man hier vergebens: Alle Sponsoren und Partner präsentieren sich an klug konzipierten und liebevoll gestalteten Ständen. Und wenn man zwischendurch genug vom Festivaltrubel hat, kann man am angedockten Design-Markt wunderbare Produkte von heimischen Designern und Manufakturen erwerben. Papierwaren, Kosmetik, Porzellan, Mittel- und Hochprozentiges … ohne Festivalsouvenir verlässt hier keiner das Gelände.

Veränderungen sind gut

Vorbei die Zeiten, in denen wir in fensterlosen Hotelsälen saßen, sich ein Vortrag an den anderen reihte und man mit Formeln und Fakten erschlagen wurde. Markus Gogolin, Director Strategic Marketing bei der Frankfurter Buchmesse, fasste es in seinem Talk in Graz kurz und knapp zusammen: „Experience ist das neue Gold.“ In den letzten Jahren hat sich das Konferenzwesen durch neue, junge Formate grundlegend reformiert, und die großen, etablierten Anbieter sind gezwungen, nachzuziehen. Wenn es um die Vermittlung von rein fachlichem Know-how geht, sind diese immer noch beste Anlaufstelle und Garant für fundierte Wissensvermittlung. Wer aber, wie ich, kaum eine Stunde lang still sitzen kann und bei Daten-Sheets schnell abschaltet, für den sind die neuen Formate eine willkommene Alternative.

Die Digitalisierung ist natürlich auch an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig. Preiswerte Konferenz- und Ticketing-Systeme, Websites aus dem Baukastensystem, unzählige Social-Media-Kanäle: Nie war es leichter für Interessengruppen, sich für andere zu öffnen und das Wissen mit anderen als Netzwerk zu teilen. Die Berliner Republica, einst als Blogger-Vereinigung mit gut 700 Teilnehmern gestartet, hat sich zu einer festen Veranstaltungsgröße mit über 8.000 Teilnehmern entwickelt. Das Tech Open Air, ein ebenfalls in Berlin ansässiges Start-up-Festival, finanzierte seine Auftaktveranstaltung 2012 über eine Crowdfunding-Aktion – fünf Jahre später streckt man seine Fühler bereits  international aus. Die Bits & Pretzels, eine Konferenz für Gründer aus der Start-up-Szene, lockt mit der Kulisse des Oktoberfests inzwischen über 5.000 Teilnehmer an; viele der internationalen Top-Speaker treten in bayrischer Tracht oder Lederhose auf und sorgen für ein unverwechselbares Rundumerlebnis. Alle drei Festivals – exemplarisch für zahlreiche weitere – stoßen mittlerweile an ihre Kapazitätsgrenzen und müssen aufpassen, ihren ursprünglichen Underdog-Charme nicht zu verlieren. Auch die großen Marken haben längst erkannt, wie wichtig es ist, sich außerhalb ihres klassischen Wirkungskreises Sichtbarkeit zu verschaffen. Immer wieder sieht man bekannte CEO und Unternehmenslenker betont lässig auf Konferenzen herumschlendern, die sie noch vor wenigen Jahren definitiv nicht aufgesucht hätten.

Die Zeiten ändern sich

Mercedes-Benz geht sogar noch einen Schritt weiter und wagt zur IAA den Schulterschluss mit der legendären SXSW-Konferenz: Während der diesjährigen Automesse in Frankfurt bietet man mit der Me Convention ein gemeinsames Programm mit Keynotes, Workshops, Co-Working-Plattformen und mehr an. Inspiration im Festivalformat – die gute, alte Messe hat offensichtlich ausgedient.

Die SXSW gewinnt auch hier zunehmend an Strahlkraft. Jährlich pilgern mehr und mehr Europäer zur wahrscheinlich größten Konferenz für Musik, Film und interaktive Medien weltweit ins beschauliche Austin, Texas. Gestartet als kleines Musikfestival, kommt die SXSW mittlerweile auf Zigtausende Besucher und läuft mit dem Interactive-Part den etablierten Digitalkonferenzen den Rang ab. Das Programm erschlägt – teilweise laufen bis zu 40 Slots parallel – und die besten Vorträge verlangen lange Wartezeiten oder sind eh hoffnungslos überlaufen. Die Hotels sind überteuert und die Anreise braucht Zeit. Dennoch machen die Besuche süchtig. Denn auch hier ist es der Erlebnisfaktor, der inspiriert und Raum für neues Denken schafft. Ein Teilnehmer sagte mir dieses Jahr, er wäre anfangs total enttäuscht darüber gewesen, dass alle großen Keynotes und die eigentlichen Must-Sees stets ausgebucht waren. Er hätte daraufhin sein Tagesprogramm geändert und nur noch die Slots besucht, von denen er im Programmheft noch nicht einmal den Titel verstand. Sichtlich beeindruckt, fügte er hinzu, dass er mit unzähligen neuen Impulsen und Ideen belohnt wurde. 

Apps, Networking-Zonen und Matching-Games gehören dazu

Die beste Networking-Plattform ist während der SXSW die Schlange vor dem Konferenzraum oder dem Burger-Stand. Hier lernt man spannende Leute kennen und führt gute Gespräche. Kontakte, die inspirieren, die weiterbringen, beim Querdenken helfen und neue Lösungen offerieren. Der Austausch mit Gleichgesinnten bringt oft mehr als die Keynote eines Business-Popstars. Längst ist das Netzwerken zu einem der wichtigsten Gründe für einen Konferenzbesuch geworden. Die Veranstalter unterstützen diesen Trend mit entsprechenden Apps, Networking-Zonen oder sogenannten Matching-Games. Vielleicht ist es auch ein Zeichen dafür, dass die Menschen im Zeitalter des Information-Overloads wieder die analoge Konversation suchen: Menschlichkeit, Nähe, echten Austausch.

Mehr „Business Romantic“ fordert auch TED-Speaker und Autor Tim Leberecht in seinem gleichnamigen Buch und in Konferenztalks, die über alle Branchen hinweg auf Begeisterung stoßen. In einer Welt, die auf allen Ebenen immer stärker von Technologie und Effizienz geprägt wird, plädiert Leberecht für eine menschlichere Ökonomie und fordert eine romantische Bewegung in der Wirtschaft. Innovativ sei nur, wer auch mal bereit sei, Zeit und Kreativität zu verschwenden, sagt er. In der neuen Ära von Künstlicher Intelligenz und Big Data feiern die Kreativen ihr Comeback, denn das logische Denken übernehmen die Maschinen für uns. Und somit braucht es „Experience“, um sich auf das neue Zeitalter und die damit verbundenen neuen Herausforderungen einzustellen. Früher war man von einer Bundesministerin als Keynote-Sprecherin beeindruckt, heute ist es jemand aus der Führungsriege von Google, Amazon oder Uber. 

Business versus Rockstars

Vielleicht gibt es in fünf Jahren wieder den Umkehrtrend zur reinen Fachkonferenz, ohne Off-Location, Schnickschnack und Mitmachspiele. Die Hamburger Next Conference stellt dieses Jahr mit dem Motto „Digital Sucks“ zumindest schon mal den Digitalisierungs-Hype infrage. Auf der diesjährigen SXSW war im Rahmen der vielen technischen Neuerungen oft vom Wandel von der Tech- hin zur Social-Innovation die Rede. Technologie ist mittlerweile fester Bestandteil unseres Alltags, und an den immer schneller werdenden Transformationstrudel scheinen wir uns schon gewöhnt zu haben. Somit rückt die Frage des „Warum?“ oder „Wofür?“ weiter in den Fokus.

Bleibt abzuwarten, wie sich eine so etablierte Fachmesse wie die dmexco unter diesen Vorzeichen entwickeln wird. Immerhin hat sich in kürzester Zeit neben dem deutschen Platzhirsch ein neuer Mitspieler etabliert: das Hamburger Team der Online Marketing Rockstars (OMR). Auch wenn sich beide Veranstaltungen unterschiedlich positionieren, ist es fraglich, ob sie auf Dauer weiterhin friedlich nebeneinander existieren können. Business versus Rockstars: Wer macht das Rennen? Es wird sich zeigen, ob die  „Experience“ nur eine goldene Zeitgeistlackierung ist, die schnell wieder abblättert oder ob Inspiration und Kreativität in Zukunft Daten und Fakten vom Thron stoßen werden.

Über die Autorin

Christiane Gillissen sorgt als Brand Experience Managerin dafür, Marken im Zeitgeist der digitalen Transformation erlebbar zu machen. Sie konzipiert Projekte und Events, die sie mit ihren Erfahrungen aus unzähligen internationalen Konferenzbesuchen bereichert. Zuletzt war sie drei Jahre lang für die Verlagsgruppe Handelsblatt tätig.